Kunst als Musterhaftigkeit unseres Identität Bildes
Was ist es um unsere erlebte Dynamik der Identitätsergänzung? Es scheint, als lauerten permanent schon fertige Identitätsweisen auf uns, in welche wir wie alternativlos verfallen und die unsere Identität sozusagen nur fortschreiben.
Mit diesen beiden Sätzen ist der entscheidende Fehler schon passiert – –
Der zweite Satz darf dem ersten nicht so einfach folgen. Das Leben und die Wahrheit tun sich genau an der Bruchstelle auf, wo der erste Satz nicht einfach in den zweiten führt. Unsere erlebte Ergänzung der eigenen Identität ist – im Prinzip immer – eine je erst zu bejahende, auch wenn sich das weitgehend vorkonkret abspielt.
Also nochmal. Was ist es um unsere erlebte Selbstbelohnung des Persönlichkeit-Seins, dieses mehr oder weniger genüssliche So-bin-ich und So-werde-ich-wahrgenommen? Da ist eine stringente Wesensergänzung, drängend auf die Fortführung unserer Identität, die uns versklavt oder beschwingt, uns wahrhaftig erscheint oder raffiniert. Und wenn unsere identitätshafte Wesensergänzung unfrei geschieht, sind wir dieser Versklavung auch gewahr.
Hiermit ist nun herausgestellt: Unsere Identifikationen (und damit Bildungen von Identität) können unfrei geschehen, es ist aber prinzipiell in unserer Macht, dass wir entscheidungsfähig, also frei sind/werden/bleiben.
Die Kunst hat uns diese Freiheitlichkeit zuzumuten. Alle Weisen von spielerischem Selbstgegenüber – die sogleich ein existenzielles Herausgefordertsein sind – exerzieren modellhaft unser Identifizieren und damit Identität Bilden. Eine Kunsttheorie, die schnörkellos ins Zentrum zielt, muss nach diesem Sein-in-identitätsbildnerischem-Selbstgegenüber fragen.
Auch dessen ‚funktionelles Element‘, die Ichdynamik, genauer die ichhafte Wesensergänzung, stellt schon eine spirituelle Realität dar. Und sie konstituiert jene Ebene mit, die uns trägt indem sie uns fordert, d. h. herausfordert zur Realisation menschlicher Entscheidung (und ihrer Spiritualität), sie bedingt und ermöglicht Identitätsbildung und so die Bewältigung des Lebensmoments. Die Kunst ist nun Beschäftigung/Beschäftigtsein mit diesem schöpferisch-existenziellen Ereignen. Sie findet sich Identität bildend mittelbar auf die Schöpferhandschrift bezogen, welche von den einen als Duktus der Evolution gedacht, von den anderen aber als Gott-in-Schöpfergeist geglaubt wird. Kunst soll uns offen halten für den ‚Urgrund‘ – hier nicht gleich zu verwechseln mit Gott selbst, sondern gemeint als Verfügtheit in ein Gegenüber, das keine emanzipierte Wirklichkeitsbeschließung erlaubt.
Wenn man etwa fragt „Was ist zu sagen im Leben?“, so gibt es außer lebenspraktischen, politischen, wissenschaftlichen Weisheiten auch noch das Zu-sagen-Haben an sich. Es geht in dem ganzen weiten Feld der Künste um ein Wie-tue/sage-ich-etwas, sozusagen um Können an sich. Auch wenn uns die Kunst keine konkreten Hilfen anbietet, so doch Identifikationsweisen, damit wir ‚in der Materie’ sind. Unserer Selbstfindung/-definition/-bearbeitung wird eine Musterhaftigkeit angeboten, die in identifikationsgemäßes Wünschen führt.
„Nicht alles ist Kunst, aber jeder ist Künstler“, der berühmte Satz von Joseph Beuys erfährt seine Berechtigung darin, dass jeder von uns ein Künstler an sich selbst sein muss. Gewärtigen, Auswählen, Riskieren, Abwägen, Verzögern, Entscheiden… wir sind immerfort, bei aller praktischen Konkretheit unserer Verrichtungen, an uns selber dran, unmittelbar in Seelenausbildung verfasst, dem tieferen Ernst unserer Situation ausgeliefert. Alle Kunst ist in ihrer Stoßrichtung zunächst, für den Künstler, Eroberung und Belebung von Identitätsweisen. Wo sie gelingt, gleich ob mit dem Pinsel oder der Buschtrommel, ist sie dann auch Anleitung dazu, richtet uns zusammen. Das verweist auf eine schöpferische Grundlegung unseres Wesens nicht zur Spielerei, sondern zum Selbstvollzug. Das ‚Kunstwerk’ sich vollziehender Identität als solcher ist schließlich die Ermöglichung von personal letztgültigem Dasein.
Die menschliche Fähigkeit und Notwendigkeit zur Identifikation kommt in allen Bereichen zum Tragen, überall wo szenische Momente aufkommen und wo ich–in-Welt bin, und über meine elementaren Lebensfelder hinaus explizit eben in der Kunst, beim Spiel, im Sport usw. Das bedeutet, trocken und grob identitätstechnisch formuliert, es bieten sich mir gelingende Positionen innerhalb der entscheidungstechnischen Polarität an, etwa repräsentiert durch eine Schlagtechnik beim Baseball mit bestimmten Grundgedanken worauf es ankommt, und ich finde mich darin selber wieder – also in einer Verhältnishaftigkeit der Komponenten jener Technik, die irgendwie meiner (so und so weit unbewusst) angestrebten Schaffung eines Identitätsnaturells entspricht – und ich greife das dann nicht nur wie angesammelte Regeln auf, sondern ergreife und lass mich ergreifen, im Akt der Bejahung > Identifikation, von einer Art höherem Ergebnis, das mir wie ein Pedant meines eigenen (ersehnten) Wesens erscheint. So handelt es sich bei dieser Aktivität im tieferen um eine Übung der Ichwerdung.
Wie trockene Theorie und füllige Lust an der Sache ineinander gehen müssen, um eine höhere Meisterschaft möglich zu machen – unerfasslich und nicht intellektuell kontrollierbar! ‑, so müssen, damit verwandt, unsere lebensgestaltenden Vollzüge in wesensechter Abstimmung und Konsequenz stattfinden. Letztlich sind wir gefordert, die Komponenten unseres Lebens, bei allen möglichen Entscheidungsfindungen, nicht nur zu ordnen, sondern schließlich wesenhaft zu realisieren. Darin erproben wir uns spielerisch bei verschiedensten Gelegenheiten.
Gerade in der Kunst will das Publikum vor allem den Akt des Wesensvollzugs erleben, also die (immer neue) Identifikation des Künstlers. Im Idealfall identifiziert dieser sich mit einer anspruchsvollen Identitätsvorgabe, also einer, die nicht durchsichtig konstruiert, sondern aus ernsthafter Auseinandersetzung mit dem Dasein erwachsen ist. Je nach Publikum kann freilich auch eine defizitäre Identität gefragt sein, von elitär kritisch bis verlogen naiv, von schlicht brutal bis diffus weichgespült.
In allen Fällen geht es aber um die Hingabe des Künstlers, um die Einladung zu eigener Identifikation. Und ich werde dabei immer wieder kapieren müssen, dass echte Identifikation etwas anderes ist als Wunschdenken oder Lebensunterwerfung. Ich werde in Übung und Auseinandersetzung – zwar durchaus wunschdenkend und (ansatzweise) Situationen unterwerfend – auf Sensibilität getrimmt, auf die Unbestechlichkeit meiner Wesensprüfung.
Unbestechlichkeit? Aber das Wesen lässt sich doch in alle Richtungen verändern. – Das Wesen als Ergebnis meiner Entscheidungsvollzüge ja, aber nicht meine (aller Identifikation konstitutiv vorausliegende) Wesensspannung, eine nicht objektivierbare Maßhaftigkeit, wann etwas Wesen ergeben kann. Das ist nicht objektivierend fassbar, auch nicht überführbar in eine Programmatik, wie ich es zu halten beliebe mit dem Dasein – ich bin ganzheitlich, also unhintergehbar gefordert in meiner Fähigkeit zu echter Wesenserlangung.
Man stelle sich ein Gemälde vor, das von mir fertigzustellen sei. Da werde ich nicht sagen, der Anteil von Blau als einer Hauptfarbe ist noch unter 25 Prozent, entsprechend muss ergänzt werden. Nein, ich werde gefühlsmäßig dem Charakter des Bildes nachgehen. Eher im korrektiven Sinn wird das auch mal konzeptionell ausfallen. ‚Da ist mir zuviel Blau drin. Da fehlt Kontur, usw.‘ Wir sind hier aber nicht eigentlich auf der Ebene absichtsvoll rationaler Verfügungen.
Hier etwas programmatisch fasslich zu machen ist per se unmöglich. Näher bringt uns dieser Wirklichkeit tatsächlich die Kunst. Komponenten der Wesensbestimmbarkeit: Einheitenbildung, Auslotung variabler aber einander verwandter Elemente, Freigabe von multiplikativen Effekten etc. – was in seinen Wirkgesetzlichkeiten und Bezugshaftigkeiten eine Analogie zu unserem lebensrealen Komponentengefüge aufweist, inspiriert uns zu einer ‚Wesensverleihung als solcher’. Wir erleben diese Inspiration in vielfältigen Weisen, beim Kartenspiel anders als bei der Malerei, bei der euphorischen Koordination turnerischer Bewegungen einfacher als beim tiefenscharfen Geistesblitz während einer Schachpartie, und dann – Spiel und Lebensernst sind oft kaum zu trennen – beim Lernen auf die Matheprüfung vielleicht als Groschen, der fällt, bei der Einschätzung eines Mitmenschen als Charakterprofil, beim Erleben einer Situation als Stimmungsgehalt usw. Wir erleben/vollziehen sie laufend und in verschiedensten Abstufungen. Identifikation geschieht ja nicht erst, wenn sich wieder mal eine ‚fertige Persönlichkeit‘ anbietet, also in zielhaft präzisierter Identifikation mit mir selbst, sondern schon, wenn ich irgendwelche Dinge und Bezüge in eine wesensfähige Stimmigkeit gebracht habe und sie dabei, unter mehr oder weniger präzisierter Selbstbezüglichkeit, identifiziere.
Ein geheimnisvolles Maß, wir sprechen hierbei vom Wesensmaß, lässt etwas als wesenhafte Entität identifizierbar werden. Es reicht in die feinsten Balancierungen des Entscheidens, die mir als solche kaum mehr bewusst werden. Absichtsvoll kann ich mir vielleicht den Gefühlsausbruch von gestern bewusst machen, und das beeindruckt mich irgendwie und wirkt so auch wieder weiter, aber das ist sozusagen nur die Spitze des Eisbergs. Auf der wesenheitlichen Ebene summiert sich jede Entscheidungsvorgängigkeit, samt Charakteristika, die ins Ausdrückliche streben. Das Wesensmaß, also jene Größe, ob und wann etwas als Wesen identifizierbar ist, bedingt dabei unsere Entscheidungsmedialität.
Dieser Zusammenhang lässt sich nicht verändern, sondern nur ausblenden oder verdecken. Er wird ausgeblendet mit selbstlaufenden Unter- und Übertreibungen als Ichvorgaben, mit behaglichem Sich-Wegdrücken, aber auch wenn sich jemand darauf versteift mit den falschen Mitteln das Richtige anzustreben. Wenn die ureigentliche Wesensprüfung, als Anteil der Enscheidung > Identifikation, blockiert wird – indem z. B. jemand in einem für ihn unpassenden Milieu bestehen will und sich die entsprechende Ichvorgabe auferlegt ‑, verschiebt sich alles auf Konvention hin. Er wird schließlich seine Absichten, Wünsche, Sehnsüchte in Konventionalität verpackt vorfinden, die er nicht vom Herzen her durchdringt.
Das ist auch dann problematisch, wenn die Konvention meinen als natürlich und naheliegend erfahrenen Impulsen durchaus entspricht. Weil ich entweder schon völlig in jener Konvention aufgegangen bin oder weil es bei mir kaum eine Selbstposition zu identifizieren gibt. Im ersteren Fall, dem gediegenen Aufgehen in einer lebensfrischen Konvention, also einer fraglosen Natürlichkeit, ist die Identifikation schnell zu sehr nach außen verlagert – auch das Innen ist ja sofort ein Außen, wenn es anvisiert wird ‑, und alle Ansätze einer Selbstwahrnehmung als „natürlich“ oder „vital“ o. ä. bergen mich in Ichbetreibung ein. Zweiteres betrifft viele Kunstschaffende. Sie lassen ihr Schaffen und Entscheiden sozusagen autorisieren von einer (erlebten und vielleicht theoretisch unterfangenen) naturhaften Stimmigkeit, geben den Eigenanteil eines motivierten Identifizierens auf und erleben sich bald tatsächlich als überantwortet: jener vorausliegend gegebenen Phänomenalität der Stimmigkeit (basierend u. a. auf der angesprochenen Wesensspannung.)
Es geht nicht um eine Zauberformel der Totalen Sensibilität oder ein Prinzip der Selbstzurücknahme auf authentische Daseinserfahrung hin. Auch dies schottet uns von dem originär menschlichen – immer neu in Identifikation zu erschließenden – Daseinsanspruch ab. Wir sollten nicht wie der ‚Fänger im Roggen‘ die Identitätsgestaltung als solche verdächtigen, auf eine vorausliegende Wahrhaftigkeit hin, in rigoros authentischem Weltschmerz, der eigentlich Weltbetreibung ist, dort nämlich eine dynamisierende Schräglage der Selbstüberlassung an Relikte kindhafter Identität.
Schon oft wurde die Konditionierung unseres Stimmigkeitserlebens über die Kunst zu ergründen gesucht. Hierzu gibt es eine Reihe berühmter Namen, Pioniere in dieser Stoßrichtung waren z. B. Kandinsky und Schönberg. Da war eine Kunst angetreten, ihre tieferen Maßgaben ans Licht zu holen. Die Loslösung aus überkommenen Formen und verselbständigten Aussageweisen des Kunstbetriebs führte dabei aber zu einem konzeptionellen Bruch mit Konventionalität als solcher und zum Versuch einer theoretischen Neubegründung dessen, was man etwa als ‚Innere Notwendigkeit’ bezeichnete. Dass dem eine reale seelische Größe oder Maßgabe entspricht, erfahren ja alle Künstler täglich, mehr oder weniger explizit, und jeder Mensch wird in seinem Selbsterleben entscheidend davon bedingt. Aber dies fassbar machen zu wollen, gültige Abstraktionen davon anzupeilen, führte im Ergebnis zu einer verfälschenden Positivierung seelischen Erlebens. Den Tiefen der Gegenstandslosigkeit oder der Atonalität entspricht eine ekstatische Illusion. Es geht eine tückische Faszination davon aus, höhere Gesetzlichkeiten oder jene Innere Notwendigkeit von sich her aufweisen zu können, unserem identitätsbildungshaft jeweiligen Realisieren-Müssen objektivierend habhaft zu werden. Zwar wurde genau das Gegenteil angestrebt, nämlich die authentisch ausgelieferte Existenzialität des Menschen freizulegen – nach Paul Klee: eine Linienführung als freier Ausdrucksträger des Psychischen, losgelöst vom Dienst der Beschreibung ‑, doch im Effekt verwandelte und entfremdete sich die solchermaßen explizit anvisierte Innerlichkeit; sie reagierte sofort darauf, eine anvisierte zu sein, genauer: die Aussicht, nun ‚mit der Psyche’ agieren zu können, führte zu einer vertrackten Euphorisierung, und mit diesem katalytischen Effekt kommt die Kunst bis heute kaum zurecht.
Die konzeptionelle Verselbständigung der Wesensgewahrung, also ihre Ablösung von lebensweltlichen Konkretheiten, mit der Ermöglichung von auf sie – isoliert – abhebender Wesensbildung, wurde von der Moderne im großen Stil auf den Weg gebracht. Vielleicht ist das sogar deren bestimmender Grundzug: Es wird von dieser Erlebbarkeit aus in allem bei einer Selbstkonzeptionalität des Menschen angesetzt: ich erfinde nicht nur meine Identität, sondern auch den Prozess dorthin. Wie problematisch das dann ist – gerade die notwendige Wiedereingliederung abstrakter, von lebensdramaturgischer Konkretheit isolierter Erlebnisweisen ‑, wird heute vielfach und äußerst schmerzlich erfahren.
Natürlich in das Phänomen Ich eindringen
In das Phänomen des Ichs einzudringen, kann legitimer Bedarf sein. Wir setzen so die Identifikationen und Profile, wie sie uns jeweils von der Selbstgeschichte her innerlich begegnen, dem aktuellen kulturellen Zusammenhang aus, setzen sie quasi aufs Spiel, um nicht mit ihnen aufzulaufen.
Ich kann im 21. Jahrhundert nicht mehr John Wayne sein. Das Westerngenre steht recht typisch für einen spielerischen Umgang mit Ich-Schichtungen. Der aufrechte Held ohne Furcht und Tadel, ohne Wenn und Aber wird dem Publikum in unserer Zeit nicht vor allem deshalb vorenthalten, weil es ihn nicht mehr gäbe, sondern weil wir uns heute auf eine vielschichtigere und reflexivere Weise selber finden wollen müssen. Wohl gibt es noch den sattelfesten Cowboy als Urbild im Hintergrund und er fasziniert weiterhin mit seiner martialischen Schlichtheit, doch begegnet er uns inzwischen nur noch in gebrochener Darstellung oder negativ, etwa als verstockter Familienpatriarch. Man will heute beides, die naive Kraft und die rationale Überlegenheit, und dazu wird zwischen Ich-Ebenen/Komplexitätsstufen der Selbstthematisierung auf und ab manövriert (nicht konkret selbstanweisend, versteht sich, also hoffentlich.) Ich lasse mich vielleicht im Kino von einer Liebesgeschichte hinreißen, später lese ich dann eine intellektuelle Aufbereitung dazu im Kulturmagazin. Und da drin steht vielleicht auch noch, der Film wäre „herrlich altmodisch“, es wird also ein Nebeneinander von sentimentaler Hingabe und relativierender Selbstbeobachtung als eines Sich-Hingebenden veranschlagt. Jeweils geht es mir um ein Icherleben, auch die Reflexion betreibe ich in Diensten eines Ichgefühls, ja selbst die Reflexion über die Reflexion in deren Koexistenz mit dem Erleben. Wenn nicht intellektuell-kulturell allzu sehr abgefedert und damit ichhaft ‚genichtet‘, handelt es sich dabei um reale Ichseinsweisen, freilich sehr unterschiedliche, vom Träumer über den Intellektuellen bis zum intellektuell Träumen-Wollenden, und je nachdem wie ich mich zu ihnen verhalte, sie anpeile oder meide, arbeite ich auch an meiner Lebenstüchtigkeit.
Wir müssen träumen. Wir müssen einschätzen. Wir müssen entscheiden. Wir müssen spontan sein, aber auch überlegt, etc. Und das bewältigen wir durch mehr oder weniger feine Bewegungen innerhalb unserer Ich-Alternativen. Wenn diese allerdings keine ‚sanften’ Übergänge ermöglichen, weil sie zu unterschiedlich sind – so dass sich die Variationen also gegenseitig ausschließen ‑, oder wenn sie alle schon unter dem Vorbehalt realisiert wurden (nicht wirklich realisiert nämlich), dass sie nur vorläufig sind, stehe ich in einer permanenten Identitätskrise. Das ist schwer defizitär. Aber von einem seelischen Defekt ist vielleicht erst dann zu sprechen, wenn die Krise unterbleibt (Stichwort etwa Multiple Persönlichkeit.) Eine gewisse Identitätsverunsicherung ist dabei schlichtweg geboten, denn nicht nur auf ihren kulturellen Zusammenhang hin sind Ichweisen zu prüfen, auch diese Kulturhöhe selbst untersteht ja der Fraglichkeit.
Das Bedürfnis, in die Ebenen des Ichs einzudringen, kann aber auch in problematischer Weise instrumentalisiert werden. Da bekommt etwa ein jugendlicher, schmerzlich nach Identität suchender Mensch ein Buch „Lerne Nein sagen!“ in die Hände. Und wird mitten in die nackte Grundpolarität des Ichs gestellt. Vielleicht lernt er zwar Nein zu sagen und entsprechende Mechanismen zu überwinden und löst sich von einem skrupulösen Nettseinmüssen nach allen Seiten, aber – er hätte das mittels Identifikation tun sollen. Neinsagenlernen wäre dann Teil einer natürlichen Selbstveränderung gewesen, ‚im Paket‘ mit begleitenden Anforderungen, um jener erneuerten Identität gerecht zu werden.
Also: ich sage nicht deshalb nein, um konkret mein Ich zu verändern, sondern bezüglich eines Gegenstandes – wie er identifikationsverflochten daherkommt – sage ich nein, und bin schon dabei mich selbst zu verändern. Es ist hier meine Urbegabung der unweigerlichen Faszination für Selbst- und Vorbilder gefragt, das Erzählerische, die Inszenierung, der selbstfängerische Witz, das fühlend erinnerte Rollenspiel aus der Kindheit, verschiedenste schöne und schlimme Erfahrungen in ihrem lebensdramaturgischen Zusammenhang, also die Fähigkeit, aus erlebter Identität auf ersehnte Identität hin unterwegs zu sein. In Identitätsbildung werden die gegenläufigen Ansprüche des Ichkreuzes miteinander vereinbart, das Harmoniebedürfnis und die Notwendigkeit des Neinsagens (wenn auch vielleicht unbefriedigend, wie jede Identität ihre Defizite hat), aber nicht als isolierte Anweisung, sondern in gewachsenen Ich-Zusammenhängen.
Die Praxis in diversen Selbstfindungs- und Managerkursen sieht leider anders aus. Da kommt ein technisch angeeignetes, nicht in die Person eingebettetes Durchsetzungsvermögen zum Zuge, da wird auf elitäre Motivation abgezielt, da wird man dem Ich aus der Hand genommen, um das Ich in die Hand zu bekommen. Aber diese Illusion einer psychotechnisch raffinierten Lebensüberlegenheit ist ruinös. Gepuschte Egos brechen zusammen, sei es geschäftlich, zwischenmenschlich, sinnbezogen oder in jeglicher Hinsicht.
Was dazu oft nachhängt, ist der verfehlte Grundanspruch, man könne sich das Leben trotzdem gefügig machen, irgendwie, man will nicht lassen von dem süßen Traum der Lebensüberlistung. Und dies ist das Grundproblem der Spielsüchtigen, der Drogenabhängigen, der Sexisten und Fetischisten und der Egomanen, die für ihre Selbsterweiterung über glühende Kohlen gelaufen sind. Sie hatten Erlebnisse an tragenden Gesetzlichkeiten vorbei. Oder, anders formuliert: sie erlebten die Aussicht auf Lebensbewältigung neben dieser Ebene, die uns trägt, indem sie uns fordert. Sie genehmigten sich die Verabsolutierung einer isolierten Idee, aber um den Preis, wahre Selbstbildung zu erschweren, vielleicht zu versperren.
Unterbewusst worthaft lebensgeschichtlich
Wie ich in eine Situation eintrete, besteht mein Bewusstseinsaufkommen vielleicht zu 99 Prozent aus Unterbewusstheit, genauer gesagt, seelisch ~ physiologisch generierter Präsenz einer bestimmten Auswahl meiner Selbstgeschichte > selbstgeschichtlichen Wirksamkeit. Das Unterbewusste ist ja kein tumb eigendynamisches Reservoir von archaischen, animalischen, infantil traumatischen oder sonstwie unmündigen Impulsen und Triebausprägungen, also ‚nicht ganz auf der Höhe‘, sondern feinst gefügte, aus vormaligen bewussten Identifikationen gebildete selbstgeschichtliche Wirksamkeit.
Wenn Freud von einer narzisstischen Kränkung des Menschen spricht, weil dieser keine Kontrolle habe, was ihn aus dem Unterbewussten heraus bestimmt, so ist das entscheidend zu korrigieren. Er hat es ‚kontrolliert‘ (also im Sinne von Identifikation, die ihrerseits autorisiert – ‚kontrolliert’ – wurde von der Entscheidungsinitiation) im Laufe seiner Selbstgeschichte. Der Mensch kann lediglich die Wirkung seiner Identität nicht im Jetzt-Moment neu konstituieren. Dann wäre sie auch nicht mehr Identität, also Selbstgeschichtlichkeit auf der gleichen wesenhaften Höhe, wie ich mich hier und jetzt identifiziere. Wie ich geworden bin, dass drängt vielschichtig in die Gegenwart, und bei aller Anfälligkeit, Neurosen und Psychosen auszubilden, sollte mich die selbstgeschichtliche Wirksamkeit doch zuerst in freiheitliche Situationen führen. Auch die zeitgenössische (post-)strukturalistische Theorie, dass das Unterbewusste wie eine Sprache funktioniere, stuft es von dieser Freiheitlichkeit auf eine zuspielende Funktionalität herunter.
Impulse, Reflexe, Triebe, Reize mögen als unterbewusst, vorbewusst oder unbewusst definiert werden, es ist eine schier unlösbare Definitionsfrage, ob sie dabei selbst unbewusst bleiben oder ob sie erst mit (einem Grad von) Bewusstwerdung als Impulse und Triebe usw. zu bezeichnen seien. Es ist hier die ganze Frage nach dem Sein des empirisch Aufweisbaren zu dem ~ mit dem Sein des persönlich Erlebbaren aufgetan. Schon die Fragestellung ist aber kaum zu leisten, ohne mit verfälschend identifizierten ‚Realitätsposten’ zu verfahren.
Die Psychotherapie setzt beim Erleben an, hat hierbei aber auch mit – so und so weit empirisch erfassbaren – Regelhaftigkeiten zu tun, mit leichter fasslichen Zwängen wie mit komplizierteren seelischen Gestalten, die dazu noch interaktiv sich gestalten im Therapieprozess. Erleben zu besprechen ist von vorneherein eine recht unabsehbare Angelegenheit, mit beiderseitigen unterschwelligen Eitelkeiten und identitätshaften Übertragungen. Das therapeutische Gespräch mag dann als gelungen oder weniger gelungen empfunden werden ‑ die Nachwirkungen erweisen erst richtig, was stattgefunden hat, und zwar nicht nur auf den offenkundigen Problemfeldern, sondern insgesamt. Es kann ein Problem gelöst sein, aber gerade mit der Problemlösung ein viel größeres eröffnet sein. Aus einem grobschlächtig monolithischen Verständnis heraus (Realitätsposten wie Das Unbewusste etc.) hat vielleicht ein massiver Eingriff in filigrane Verwobenheiten stattgefunden. Das kann schon der Fall sein, indem Dinge überhaupt angesprochen, also begrifflich positiviert werden. Der andere mochte diese Dinge irgendwie nicht in sprachliche Abgreifbarkeit überführt wissen, vielleicht aus einer tiefen Sensibilität heraus, dass sie mit der Offenlegung ihre Authentizität, ihren Reiz verlieren müssen. Viele Psychologen gehen leider wie Trampeltiere mit solchen Verwahrungen um, versuchen gar, ein prinzipiell offenes – in realer Wirkung offensiv konzeptionelles – Gegenüber zum Wortgebrauch herzustellen. Da gibt es dann keinen Respekt mehr vor einer herangebildeten Stufung der Bewusstmachungen und Benennungen, auch keinen vor ‚versunkenen Worten’. Es gibt nur noch die schnöde Unterscheidung: worthaft belegt oder nicht. Und weil man über das methodische Skalpell verfügt, Schlüsselworte für Fehlleistungen ans Licht zu holen, sie zugänglich zu machen für eine offene Bearbeitung des Problems, so tut man es auch.
Die Fehlleistung mag auf diese Weise korrigierbar sein, aber es ist auch ein unabsehbarer Eingriff ins komplexe Ganze erfolgt. Wenn identifikativ verinnerlichte Begriffe aus dem Unterbewusstsein herausgedockt werden, sind damit – um in plastischer Anschaulichkeit zu reden – nicht einfach blinde Puzzlestücke nutzbar gemacht worden, sondern ein vielschichtig hierarchisch verwobenes Ganzes wird darauf reagieren, dass es wie ein einschichtiges Puzzle behandelt wurde. Auf welche Weise instrumentalisierte Begriffe ihre Funktion verändern, lässt sich pauschal natürlich nicht sagen, die Wirkung ist jedenfalls umso problematischer, je mehr der Analysand zu einem offensiven Umgang mit diesen Begriffen angehalten wird. Sie waren bisher vielleicht Etappenbegriffe auf bewusste Identifikationen hin, jetzt werden sie Endbegriffe, mit denen ich selbstbestimmend umgehe. Sie waren bisher erzählerisch zuspielenden Charakters und gehörten so verschiedenen Identifikationsvorlagen an, jetzt eröffnen sie handlungsworthaft dominant neue Selbstseinsweisen. Solche aus ihren identifikativen Zusammenhängen herausisolierten Begriffe können als Fremdkörper meine selbstgeschichtliche Wirklichkeitsverfügung tatsächlich aushebeln. Sie wieder lebenstüchtig zu integrieren – ich muss von meiner Selbstgeschichte her und in lebensdramaturgischer Sprache in das Jetzt gehen – wäre oft eine hohe Kunst. Selbstgeschichtlichkeit heißt zwar auch Veränderbarkeit, und dazu muss es die identifikative Veränderbarkeit von Begriffen geben; wir sind ja stets dazu aufgefordert, unsere verinnerlichten, für die bewusste Identifikation zum Tragen kommenden Weltverfügungen zu prüfen, aber nicht lebenswissenschaftlich konkret, sondern lebensdramaturgisch sich konkretisierend.
Ähnlich gelagert ist die Problematik von Lerntechniken. Da wird etwa auf Phänomene wie dem Aha-Erlebnis aufgesetzt – und zuwenig realisiert, welch unabsehbaren Eingriff solches ‚biografisch integrierende‘ Lernen in mein selbstgeschichtlich verankertes Begreifen und Wollen darstellt. Zunächst gilt zwar für jede Art von Lernen: Wenn ich einer Thematik folgen muss, also einer Linie von Begriffen, die jeweils mit einer Ichcharakteristik – sowohl vom Autor her als auch dann von mir – befrachtet sind, stehe ich in Identitätsauseinandersetzung. Aber diese einer Raffinesse der Motivation auf ganzheitliche Persönlichkeitsentfaltung hin (oder was jemand darunter versteht) unterzuordnen, überführt sie in eine Art Lebensmeisterschafts-Ichbetreibung. Die entscheidende Frage, wozu Lernerfolg gut sein soll, wird von solchen Lernkonzepten zwar thematisiert, doch nicht in eigentlicher Tiefe aufgegriffen, ja in Konsequenz abgefedert von einer prinzipiellen Zuversicht ins Gebildet-Sein. Oft ist gar die Rede von einer Gebrauchsanweisung für unser Gehirn, es wird unbedarft instrumentalisiert, auf dass wir in der Gesellschaft – die auch zunehmend nur noch als Chancengesellschaft definiert wird – bestehen können. Die Frage nach dem Sinn jedwelcher Bildung stellt sich aber viel grundlegender und radikaler.
Hirnforschung und Freier Wille
Wahrhaft lebendige Identität ist auch und sozusagen im Ergebnis: Befähigung zu echtem Wollen. Dem Wollen muss dabei, um das tief genug anzugehen, eine übergeordnete Letzt-Qualität zugestanden werden, die nicht schon in lebensweltlich konkretisierten Kategorien wie Beabsichtigen, Vorhaben, Begehren aufgeht, auch nicht in (Be-)Denken, Werten, Urteilen – es veranlasst/betreibt/unterfängt/umschließt diese Manifestationen. Mit ihnen will ich etwas mit mir. Das erst lässt eine eigentliche Bedeutung von Wollen zu, und der Wille ist so frei wie es mir vorkonkret initiativ überlassen ist, mich auf sich konkretisierende Manifestationen (auch ein sich konkretisierendes Mir-gegenüber-Sein) hinentscheiden zu können.
Die Hirnforschung unserer Tage freilich, wie sie etwa von Gerhard Roth und Wolf Singer repräsentiert wird, verfehlt, indem sie sich nur um messbare, eruierbare, repräsentierbare Manifestationen des Wollens kümmert, solche Tiefe von vorneherein. Eine positivistische Auffassung von Realität bindet alles an Quantifizierbarkeit, und so erscheinen die physischen Auslösungen und Wirkungen eines Tuns als real, die Möglichkeit von tiefer seelischen Eröffnungen, welche aller physikalischen Eruierbarkeit vorausliegen könnten, fällt glatt durchs Raster. In der Folge spricht man dem Menschen meist ganz trocken eine transzendente Seelenrealität wie dann auch den Freien Willen ab. Dieser sei nur eine Illusion, welche sich dem Umstand verdanke, dass wir die Vielfalt unserer Motive, wie sie in eine Handlungsbereitschaft hineinspielen, in Echtzeit nicht durchschauen können. Lebensfunktionell sei unser Eindruck, frei zu sein, sehr nützlich, faktisch aber eine Illusion.
Ungeachtet einer ganz strittigen Interpretationshoheit in der feuilletonistischen Debatte meint man dazu auch griffige Nachweise zu haben, gerade indem experimentell feststellt wurde: Im Unbewussten ist die Absicht etwas zu tun, z. B. eine Handbewegung, bereits knapp eine halbe Sekunde vor ihrer Bewusstwerdung als Entscheidung vorhanden. Also alles nur nachträgliche Einbildung und Interpretation, in Wirklichkeit hätte das Gehirn entschieden, nicht das bewusste Ich. „Wir sind die letzten, die erfahren was unser Gehirn vorhat“ so der US-amerikanische Forscher M. Gazzangia.
Doch was heißt hier zunächst ‚die letzten’? Richtiger wäre noch eher ‚die einzigen’. Aber es ist schon haarsträubend falsch zu formulieren, das Gehirn habe etwas vor. Wenn mir ichhaft bewusst etwas als Vor-haben aufscheint, kann ich das nicht in gleicher Weise dem Gehirn zugestehen. Wie könnte ich eine erlebte Phänomenalität und das Erleben, dass sie von mir ausgeht und zu mir in einem Verhältnis steht, zuverlässig einem Etwas zuordnen? Oder sollte vielleicht das Gehirn schon mal bei irgendwem den Anspruch angemeldet haben, ein Bewusstsein zu haben? Erschöpft sich Vorhaben – auch nur irgendwie aufweisbar – in seiner physiologischen Generierung?
Nein – ich habe etwas vor, und das Gehirn dient mir dazu. Wenn auch die Absichtlichkeit, zeitlich chronologisch betrachtet, aus dem Unbewussten hervorgeht, physiologisch generiert von subcortikalen Hirnbereichen, so hat dennoch nicht das Gehirn entschieden, sondern die Seele über eine unbewusste Generierungsstufe.
In den Humanwissenschaften herrscht dazu eine fast schizophrene Position vor. Der Mensch wäre einerseits determiniert, in seinen Handlungsbereitschaften faktisch von physiologischen und Umweltbedingungen bestimmt, was im weiteren bedeutet, auch vollständig gestimmt in seinen Akzeptanzen, zum anderen wird wie selbstverständlich eine höhere Selbstreflexion vorausgesetzt, also eine geistige Position zu seinen Gestimmtheiten. Vom Säugetier homo sapiens wechselt man übergangslos zu diesem Wesen mit freiheitlicher Ansprechbarkeit. Monolithische Triebtheorien, als z. B. die Libido zur alles beherrschenden Urkraft erklärt wurde, sind zwar einem komplexeren Verständnis gewichen; man spricht heute von Motiven und Handlungsbereitschaften, die von einer Vielfalt an Faktoren abhängen. Aber es blieb trotzdem bei der eindimensionalen Determiniertheit unseres Verhaltens. Eine originäre Selbstbestimmung vom Seelischen her, das freie Subjekt, findet heute in den Wissenschaften vom Menschen wenig Raum, geschweige denn Anerkennung. Es gilt fast als ausgemacht, dass es Wahrheit, originär Seelisches, echte Freiheit nicht gibt. Der krasse Widerspruch dabei, von Determiniertheit zu reden, also an jemandes freie Einsichtigkeit zu appellieren, verliert sich allerdings ins Unbesprochene. Wissenschaftliche Autoren, die den Menschen als determiniert betrachten, wenden sich zugleich in einer Weise an ihre Leser, als hätten diese die (freiheitliche) Wahl, Informationen anzunehmen oder nicht. Welche Ebene wird da bedient, obwohl es sie doch erklärtermaßen nicht gibt? Dieser Widerspruch wird aber nicht thematisiert, er fällt meistens einfach unter den Tisch.
Was jenen verzögerten Zeitpunkt in dem Willensexperiment betrifft und dass er als Aufweis unserer Determiniertheit herhalten soll: Die früheste Messbarkeit der Initiation und der Reflexion (als bewusste Selbstvorfindung mit der Initiation sozusagen eine nachträgliche Erfahrung des Tuns in Bezug auf mich selbst) kann natürlich nicht zeitlich zusammenfallen. Die Frage nach einem Bedingungsgefüge von Impuls und Reflexion, also nach einer inneren Struktur des Willensaktes, ist hier aber noch gar nicht gestellt. Es ist nur empirisch erfasst, dass die ichhafte Reflexion jener Initiation nicht in Echtzeit erfolgt und dass es einen unbewussten oder unterbewussten Vorlauf gibt bis zur vollen Bewusstwerdung. Initiation meint bei uns die Annahme/Akzeptanz einer Selbstseinsweise mit dem Entscheidungsvollzug; sie stellt also ihrerseits auch noch nicht den ersten Impuls dar. Hier wäre im weiteren etwa von der Initiative (zur Initiation) zu sprechen, was dann nochmal auf deren – göttliche – Ermöglichung verweist.
Dass eine gesteigerte Komplexität des neuronalen Geschehens die Höhe des Bewusstseinsaktes begleitet, sollte niemanden überraschen. Wenn solcherlei Analogien aber eine Systematik der Abgleichung von bewusstem Wollen und aufgezeichneter Gehirntätigkeit begründen, ist höchste Skepsis angesagt. Vor allem lässt sich der Willensimpuls in seiner spirituellen Tiefendimension überhaupt nicht konkret aufweisen, er lässt sich in solcher Eigentlichkeit nur: erleben. Dass alles Erleben doch erst physiologisch generiert werden müsse, mag jemand entgegnen. Er ist damit jedoch schon einer vorentscheidungshaft empiristischen, vielleicht gar empiriokritizistischen Definition und damit Schmälerung seiner ursprünglichen Introspektion aufgesessen. Warum sollte Bewusstsein ausschließlich rezeptiv sein, also nur mit/nach Gehirnprozessen stattfinden? Wer könnte über Gehirn und Bewusstsein solches wissen? Die Hirnforschung in ihrer materialistischen Fixiertheit vielleicht am wenigsten. Nach unserem doch recht allgemein und recht intuitiv gegebenen Freiheitserleben erscheint viel plausibler: Die erste Initiation von willentlichen Impulsen geschieht in> neuronale Prozesse, von einer Un-räumlichkeit und Un-zeitlichkeit her. Die einfachste Lernpsychologie weiß eigentlich schon, dass Grundmotivation irgendwie von ganz woanders her kommt, dass ich also sinngründig wollen wollen muss, damit mein Gehirn ‚anspringt’. Es ist eben kein geschlossenes System, das, von evolutionären Vorgaben betrieben und von aktuellen Eindrücken gespeist, sich ein Bewusstsein verschafft. Lernfähigkeit, Inspiration, Motivation usw. hängen freilich am Belohnungssystem des Gehirns, aber dieses wieder an meinen personalen Initiationen, und so zielt es auf meine umfänglichen personalen Ansprüche. Denken, Kombinieren, Erinnern, Sinnieren werden dann generiert, wenn ich insgesamt etwas davon zu haben ‚glaube’ – ein unscharfes Wort, es handelt sich um ein vor-gedankliches ‚Geschehen’, ein noch unformuliertes ‚Grundwollen’, wie man es immer nennen mag: die Seele erwirkt sich durch das Gehirn ein Bewusstsein.
Schleichend, noch immer viel zu wenig reflektiert, hat sich in den Köpfen die Reihenfolge vertauscht: Man denkt schon in Aufweisbarkeit, trägt sie wie eine Vorbedingung für etwaige Gültigkeit an alles heran. In der evolutionären Anthropologie z. B. werden aus vorliegenden Funden trockene Befunde kombiniert, aus grob gestrickten Experimenten noch gröbere Schlüsse gezogen, alles strikt nach dem Prinzip des reinen Überlebenskampfes der menschlichen Art, und daraufhin ist zwar eine bestimmte Entwicklung von Intelligenz und Bewusstsein postulierbar, aber keine echte Metaebene der autoritativen Selbstreflexion – z. B. Gewissen unabhängig von evolutiver Dienstbarkeit ‑, also verfällt man gleich gar nicht auf die Idee, dass es etwas ursprunghaft Geistiges geben könnte. Fast die komplette Naturwissenschaft hat verlernt, diese Idee auch nur zu denken. Entsprechend fassungslos steht man den Umfrageergebnissen gegenüber, die unverwüstlich dokumentieren, wie eine nichtwissenschaftliche Bevölkerung stets aufs neue mit dieser Idee anfängt. Der Primat des Geistes, ein klassisches Feld von Philosophie und Theologie, ob nun akzentuiert als außersinnliche Entität oder als interaktives Sich-Einbringen, wird dabei allermeistens nicht an diese verwiesen, sondern erstickt von ausufernder Betriebsamkeit in eigener Sache. Das alte Klischee vom Fachidioten greift heute vielleicht mehr denn je.
Es liegt im gegenwärtigen Diskurs ein arges Fehlverständnis erstens vom menschlichen Wollen und zweitens vom Ich vor. Ich will nicht ‚die Hand bewegen’, sondern zum Beispiel eine Telefonnummer wählen, um einen Termin zu vereinbaren, also: mich selber gestalten/bestimmen in dem größeren Vorhaben, welchem die Handbewegung dient. Selbst bei den bedeutungsfreiesten Laborversuchen wird etwa die höhere Motivation bestehen sich als Versuchsperson zu bewähren, und sei es nur ‚irgendwie‘. Der freie Wille setzt nicht erst bei der konkreten Ausführung ein, sondern bestimmt schon im Vorfeld die Hirnchemie, die Gemengelage von Motivationen. (Aber er tut dies nicht einfach im Sinne von Rückkopplung des Bewusstseinsereignens auf – damit wiederum determinierte – Grundsatzentscheidungen hin, wie derzeit von vielen Neurowissenschaftlern angenommen.) Sondern in einem durchgängigen Prozess der Selbstaktualisierung wirkt er initiativ interaktiv in die neuronale Landschaft, beeinflusst Neigungen, bewirkt Wertungen und Vorentscheidungen, trifft hierarchische Einstufungen usw.
Von meiner Personalität her wird das Gehirn betätigt, natürlich in Wechselwirkung zueinander, aber nicht einfach als zwei Seiten einer Realität. Wie sollte die Entsprechung der Gehirnphysis zur Ganzheit unseres Erlebens aufgewiesen werden können? Die Gehirnforschung beobachtet Abläufe, setzt Messdaten in Entsprechung zu Bewusstseinsvollzügen. Das mag, obwohl die Verfahren angesichts des Gegenstandes weiterhin primitivistisch anmuten, eine hochkomplexe Apparatur etwas aufhellen, für die wesenhafte Selbsterkenntnis des Menschen bringt es nicht viel. Wenn gehirnphysiologische Prägungen und Determinierungen festgestellt werden, sagt dies nichts darüber aus, ob es einen freien Willen gibt, sondern nur, wie sich unser Wollen in schon messbar fortgeschrittenem Stadium ausgestaltet. Wenn die bildgebend repräsentierte Interaktion des Physiologischen mit Erlebnisgehalten auch nur prinzipiell den ganzheitlichen Daseinsvorgang abdecken könnte, wären die Neurowissenschaften tatsächlich in Besitz eines geschlossenen Systems. Alles wäre von messbaren Korrelaten her zu erklären, Geist und Bewusstheit stellten nur noch eine Art organische Aura dar, die das Gehirn zur Selbstorganisation ausbildet. Tatsächlich befindet man sich mit solchen Aussagen schon inmitten purer Spekulation. Nichts lässt sich hier aufweisen. Verlässlich recht hat die Hirnforschung nur soweit, wie Bewusstseinsvorgänge, unser initiatives Wollen nicht voraussetzungslos vom Himmel fallen. Und wenn sich der Willensakt auf neuronal manifestierte Gewichtungen und Bewertungen stützt, oder auch hirnphysiologisch verfestigte ‚Vorentscheidungen’, so ist damit keinesfalls bewiesen, dass er deswegen nicht frei wäre. Im Gegenteil. Diese operative Ebene geht ja aus einer tieferen vorphysiologischen Dimension – wir sprechen dabei natürlich schon in Gläubigkeit – entscheidungsfunktionell erst hervor.
Frei ist man dabei, was jedem intuitiv einleuchtet, zunächst nicht von etwas, sondern für etwas. Freiheit braucht sozusagen Material. Das gilt nicht nur für die Alternativmöglichkeiten des konkreten Handelns, sondern auch für jene, die sich uns psychisch (neuronal vernetzt) darbieten. Aber wenn die Komponenten, aus denen Entscheidungsfindung besteht, nicht gewichtet und bewertet sind, ist dieses Für-etwas nichtig. Die Gewichtung und Bewertung allerdings kann nicht auf der selben Ebene angesiedelt sein wie das Gewichtete und Bewertete. Man agiert hier sehr oft mit anfängerhaften Kategorienfehlern.
Derlei ontologische Unbedarftheit ist freilich auch bei berühmten Geistesgrößen anzutreffen. Schopenhauers berühmtes Diktum etwa, dass der Mensch zwar tun könne, was er will, aber nicht wollen könne, was er will, hat unser Bestimmtsein von Motiven letztlich auch auf eine Ebene zusammengeschnurrt und dergestalt verabsolutiert. Im Effekt ist eine Linearität des Willens hinter dem Willen eingeführt, und eine Willenskette zu einem dumpfen Urwillen, der das Universum vor sich her treibt. Aber weder dieser noch jener Wille wird einer authentischen Betrachtung des Wollens gerecht. Was ist denn: Wille? Wir sind wieder bei der Eingangsbetrachtung, dass der lebenskonkret ausgestaltete Wille natürlich nicht zusammenfällt mit seinem intitiativen Impuls, ja auf einer anderen – nachrangigen – Seinsstufe angesiedelt ist. Schopenhauer dagegen positiviert eine empfundene Motivationslage als Wille (und Vorstellung.) Und damit ist auch schon klar, dass jegliche Tiefenschichtung von Willentlichkeit nichts anderes sein kann als eine zwar als geheimnisvoll empfundene, aber unverändert einebenige und damit determinierte und determinierende Landschaft von Dynamiken, Affekten und Motiven.
(Mit der gleichen Ungeistigkeit wurde auch schon über Sinn und Widersinn einer Ersten Ursache philosophiert. „Auch diese Ursache müsste dann wieder eine Ursache haben.“ So wäre der historische Gottesbeweis einer Ersten Ursache schon begriffslogisch erledigt. So griffig so einfach. In neuerer Zeit popularisierte das wirkungsvoll etwa Bertrand Russell. Doch gerade der Logiker Russell, dem auch die moderne Sprachphilosophie einiges verdankt, hätte die begriffsbildnerische Selbstaufhebung einer solchen Gegenargumentation erkennen müssen. Unser Begriff der Ursache, soweit er sich von sinnenhaften Erfahrungen ableitet, bleibt freilich schöpfungsintern. Das heißt, wer in seiner Begriffsbildung völlig auf empirisch Eruierbares abstellt, wird nie eine Idee von „Ursache in> Schöpfung“ haben können. Es gibt dann nur Ursachen von gleicher Seinsrangigkeit. Russell ist mit dem frühen Wittgenstein konform gegangen – dass Sinnfragen nicht zum Tatsachenraum gehörten, dass alles Existierende prinzipiell sprachlich abzubilden sei ‑, aber der spätere Wittgenstein – der gelebte Sprachlichkeit betrachtet hat – ist ihm enteilt. Welcher lebensweltliche Zusammenhang bringt welche sprachliche Auffassungsweise hervor? Das hat den Dozenten Wittgenstein zu Zeiten fast ‚narrisch’ werden lassen, Russell hat es scheinbar nicht größer tangiert. Es kann keinen Gottesbeweis der Ersten Ursache geben, wie es keinen Beweis der Untauglichkeit dieses Gedankens gibt. Beides würde zu einer Plastifizierbarkeit und das heißt schöpfungsinternen Isolierbarkeit des (welches doch eigentlich als plastisch > beweisfähig Dingliches Hervorbringendes aufgewiesen bzw. widerlegt werden soll) Geisthaften führen. Unsere Sprache erstreckt sich freilich von vorneherein sinnenhaft verdinglichend auf Geistiges, aber sie tut das – in echt philosophischem Sinne – nicht mit dem Duktus, es solcherart fixieren, erklären oder kontrollieren zu wollen. Solche Rückbindung alles Existierenden auf dingliche Positivierbarkeit wird gerade von der Wissenschaftlerelite im angelsächsischen Kulturraum als ‚common sense’ gepflegt, hat allerdings mit intuitivem Hausverstand nicht wirklich etwas zu tun; vielmehr ist dieser in eine so robuste wie ungeistige Denkmassivität überführt.
Wer Geisthaftes auf Materie reduziert, unser Erleben etwa mit physiologischer Affektation gleichsetzt, der weiß nicht wirklich wovon er spricht. Er spricht nämlich – positiv dieses anvisierend – von Bezügen und Entsprechungen und stellt darauf ab, dass das empirisch Zugängliche zu einem erlebten Geistigen sich verhält, meint jedoch, explizit und exklusiv von diesen Gegenständen, also von Materie und Bewusstsein als solchen, zu sprechen. Diesem Denkfehler voraus geht eine krasse Vereinebnung von Realität: Alles, was ist, muss von zeitlich und geografisch positivierbarer Dinglichkeit sein. Unser real erlebtes Phänomen Meta-Fraglichkeit (anders gesagt: ein Sinnfragen, welches zum Dinglichen als Ganzheit ein Verhältnis aufbaut) wird unbedarft unterschlagen. Von einigen nachgeschichtlich sich dünkenden Denkern wird die Frage nach einem initiativ Ursächlichen oder Übernatürlichem einfach damit abgebogen, dass man sie zur Scheinfrage erklärt. Erst bestimmte weltanschauliche Prägungen hätten eine solche Frage-Idee herbeigeführt. Auch sie stützen sich aber, sowie die Frage keine verstehenskundliche mehr, sondern eine konkrete ist, auf einen allgemein zu akzeptierenden Positivismus. Wissenschaftliche Untersuchungen unserer neuronalen Vorgänge und Erlebnisgehalte wiesen nicht auf irgendwelche Initiation von außerhalb hin, also entspräche all dem kein aufweisbares Seinsaufkommen, also sei bis auf weiteres nicht davon auszugehen, dass hier etwas sei.
Eine tatsächlich aussagekräftige Empirie hierüber müsste aber in der Lage sein, unsere ganzheitliche Bewusstseinsphänomenalität zu erfassen (und im übrigen verschiedenste Phänomene von Gedankenfernwirkung bis zur Diskontinuität im subatomaren Bereich.) Wissenschaftliche Empirie freilich, und darüber definiert sie sich auch, möchte verlässlich mitteilbar sein, und so zielen schon ihre Fragestellungen auf verlässlich Zugängliches, de facto auf Konkretisierbares ab. Die initiativen Seelenimpulse sind aber gerade nicht konkretisierbar, sie können nur/erst ganzheitlich erfahren werden. Wer also in Sachen Willensbildung auf abbildbare, empirisch repräsentierbare Gehirnprozesse abstellt, bewegt sich schon im Fahrwasser einer abgründigen Vorentscheidung, was sein darf und was nicht.
Bewusstsein ist nicht, obwohl das unsere heutigen sensualistischen und atomistischen Denkmuster nahelegen, sphärisch, psi-energetisch, also schon wieder irgendwie materiell und empirisch aufweisbar zu denken; das sind nur seine Manifestationen/Wirkungen ins Stoffliche. Es im Stofflichen aufgehen zu lassen, um alle Realität empirisch aufweisbar hereinzubekommen, führte entweder zu einer euphorisierten, doch intellektuell völlig ungedeckten Einheitsidee, oder zu einem hitzigen Dualismusproblem zwischen den Sachen (alles Bewusstein Initiierende vom Stein, über den ich stolpere bis zur Gehirnzelle, die eine Informationsverbindung herstellt) und unserer Bewusstheit. Es lassen sich wohl alle möglichen physischen Ausrüstungen und psychischen Zurüstungen erforschen, die in das Ereignis Bewusstsein führen und damit interagieren, aber das Ereignis selbst lässt sich nur – immer neu, von jedem einzelnen von uns, und unübernehmbar durch etwas anderes – erleben.
Und wer die Realität dieses Erlebens dann wieder reduziert auf seine positive Symptomatik, hat an dieser Stelle noch nichts verstanden. Das muss einem großen Teil unserer zeitgenössischen Wissenschaftler attestiert werden: Sie setzen das Sein des Bewusstseins gleich mit seinen, und wenn auch im weitesten Sinne, materiell vorfindlichen Manifestationen. Phänomenalität hat als solche für diese Leute keine Realität. Es ist dann bestenfalls die Rede von Qualia, also Erlebnisgehalten, womit aber auch schon wieder eine Abstrahierbarkeit ins Letzt-Bewusstsein hineingedacht wird. Und eine Wahrheit dahinter, als Realgegenstand metaphysischen Fragens, transzendente Subjekthaftigkeit, unsere Seele, Gott haben in diesem Denken erst recht keinen Platz, weil keine Unterbringbarkeit.
Jeder Denkende, auch die Hirnforscher, muss sich aber fragen lassen: Ist mir meine Art des Denkens, in der ich mich eingelebt habe und die mich auf eine Weise trägt, unterschwellig wichtiger als der Wahrheitsanspruch? Und wer eine solche Frage nicht als akut unbequem empfindet, hat den Anspruch wohl schon verfehlt. Typischerweise verschiebt man heute die Letztbegründung des eigenen Denkens und Schaffens auf eine selbstlaufende evolutive Sammelerfahrung, die uns, menschheitsgeschichtlich wie je individuell, determinierte. Aber diese Auffassungsweise selber ist es, die für eine denkerische Determinierung des solcherart Auffassenden sorgt. Über einen freien Willen kann sie per se keine Auskunft erteilen, der entsprechende Bewusstseinszustand ist ihr fremd. Diese mechanistisch reduzierende Wirklichkeitslogik zwingt originär umfassende Erfahrungs- und Erlebnisweisen unter eine zerlegend isolierende Klassifizierung. Da geschieht keine Phänomenologie des Bewusstseinsvorgangs auf Augenhöhe.
Unser Welt- und Daseinseindruck kann eben generell nicht von einem eingewobenen Anteil seiner selbst – sagen wir einmal simpel dem Denken – authentisch nachvollzogen werden. Menschliches Wollen ist ein vielschichtig komplexer und spiritueller ‚High-End-Vorgang‘, den man nicht auf der sprachlich logischen Ebene festmachen kann, genauso wenig in unbewussten Tiefen oder hirnphysiologischen Prägungen. Auch das Fehlverständnis vom menschlichen Ich liegt oft schon darin, es auf endbewusste Absichtlichkeit hin zu definieren, während man die dunklen unbewussten Größen dem Unbewussten zuordnet. Und dieses Unbewusste dem Ich gegenüber zu stellen, als außerhalb desselben liegend, gar als kompakte Macht, ist wiederum eine so populäre wie irrige Definition. Wissenschaftlich ist das zwar längst aufgebrochen worden etwa mit der Unterscheidung Erfahrungsmäßiges Unbewusstes – Vorbewusstes, und in solcher Weise wurde (bereits von Freud) auch der Begriff des Ich auf den Bereich eines Unbewusst-Seins ausgedehnt, bzw. jenes als konstituierende Größe zum und im Ich verstanden, aber: diesem Erfahrungsmäßig Unbewussten bleibt bis heute nur die Funktion einer überlebenstechnischen Informationsverarbeitung, nicht aber die Funktion einer weiterwirkenden Verzeichnung von Willentlichkeit. Der freie Willensimpuls bleibt weiterhin außen vor.
Die Entität Seele ist ihren physiologischen Bedingtheiten immer auch schon vorausliegend, und die ganzheitliche Kompaktierung unseres Bewusstseins stellt nicht einfach ein Produkt komplexer Faktoren dar, sondern ist ursprunghafte Äußerung der Seele zu komplexen Faktoren, wie ich sie in Identitätsbildung erworben habe. Es bedürfte zur Klärung jener spirituellen Intitiative zunächst einer authentischen Phänomenologie unseres ganzheitlichen Bewusstseins, ungeschmälert, unverfälscht, unmittelbar – was unmöglich ist, weil jede Überführung in Fixpunkte des Begreifens die Phänomenalität in äußerlichere Bewusstseinslagen verfrachtet. Wissenschaftliche Methodik ist hier am Ende der Fahnenstange angelangt, und jedes Kind mit seiner spontanen Freiheitsbefindung ist ihr dimensional voraus.
Lebensmaß und Ideologiekritik
Reden wir einmal ganz allgemein davon, dass es da ein Maß geben muss, welches uns signalisiert, ob unsere Identifikation von etwas zuviel der Identifikation ist oder zuwenig davon. Nennen wir es provisorisch Lebensmaß. Klarerweise setzt dieses Lebensmaß immer auf schöpfungshafte Signalität auf. Etwas als etwas zu identifizieren, kann leichter fallen und näher liegen, oder es kann eine immense identifikative Aufwendung erfordern. Was von beiden der Fall ist, wird von der Stofflichkeit des Anvisierten entscheidend mitbestimmt. So ist etwa die Farbe Rot naturgemäß eine offensive Signalfarbe, und es legt sich mir entsprechend eine rasche Idenfikation des Signalisierten ‚als signalisiert’ nahe. Ein innerkörperliches Signal wie akuter Schmerz ist auch nicht auf lange Umwege in seiner Wahrnehmung ausgelegt; die Identifikation hierbei zu verzögern wäre ungewöhnlich, sagen wir durchaus (auf vorkonkreter Ebene) erklärungsbedürftig. Die Korrelation von stofflicher Signalität mit seelischer Repräsentanz reicht dabei von einfachen Affekten bis zu ausdifferenzierten Motivationslagen, von kräftigen Bildern, nah an der sinnenhaften Abnahme, bis zu dem brüchigen oder sich schon verflüchtigenden Bildhintergrund bei abstrakten Reflexionen.
Unser Lebensmaß ist ein ‚automatisch mitlaufender‘ Gradmesser der mit dem aktuellen Identifizieren gegebenen Vitalität – jene allerdings nur im Sinne einer Basis-Vitalität, nicht als eine final zu bewertende Lebenstüchtigkeit; in solch finale, ganzheitliche Bewertung spielt es freilich konstitutiv hinein. Es ist also in dieser basisvitalen Weise eine Konstante, an der sich unsere identifikativen Erschließungen und Einschätzungen bemessen – nach der Verhältnismäßigkeit des geleisteten identifikativen Inputs ‑ und so erst konstituieren. Unsere Identifikationen werden an diesen Punkt der Abgleichung am Lebensmaß gebracht bzw. schließen ihn schon ein.
Identitätshaft treibende Charakteristik allerdings, im Sinne eines zumindest ansatzweisen Identität-haben-Wollens, verleiht das Lebensmaß gerade indem wir es (sehr oft auch schon begründet durch die laufende Notwendigkeit lebensweltlicher Jetzt-Entscheidungen) verfehlen. Es sind dann tatsächlich die Abweichungen vom Lebensmaß, die vordringlich erinnerbar sind. Generelle Erinnerbarkeit im Wesensvollzug gibt es freilich nicht erst bei starken Ausschlägen oder etwa offenkundiger Leidenschaft, sondern in feinsten Abstufungen, in einem unwillkürlich stattfindenen Summieren unseres identifikativen Inputs in den Entscheidungscharakateristiken.
Daraus ergibt sich eine legitime Unschärfe im Selbstgegenübersein, konkret in der Kunst, noch konkreter in der Politik. Im Effekt reden wir eigentlich von einer legitim vollzogenen Schärfe, genauer: Scharfstellung, bei der Überführung von innerlicher seelischer Gestaltlichkeit in äußerlicher seelische (wir nennen es konkretheitliche) Repräsentation, was eine Ungenauigkeit der Entsprechung zur Folge hat, welche also ‚in Kauf genommen’ werden kann. Dies darf gleichwohl nie dazu führen, unsere Ausrichtung auf Idealität erklärtermaßen abzuschwächen. Jede konkrete Bezugnahme auf das Lebensmaß, erst recht durch solche pragmatische Relativierung, wäre im Kern totalitär. Und die legitime Abschwächung bzw. Übersteigerung unseres Anstrebens von Idealität geschieht ja ohnehin ‚von selber’, in der Dynamik des Lebens.
Das Lebensmaß und seine legitime Verfehlung entziehen sich jeder wissenschaftlichen Beschlagnahmung. Eine solche wurde und wird freilich trotzdem versucht, unter variierenden Terminologien, aber fast immer mit einer hoffnungslos verdünnten Semantik der eingesetzten Begriffe und mit dem Ergebnis wenig ersprießlicher Darstellungen des Subjekthaften. Kommunikationswissenschaft, Ideologiekritik, Demokratietheorie bis hin zur Fundamentalontologie agieren mit psychologischen, soziologischen oder politologischen Figuren und Fertigbegriffen, welche zuviel terminologisch Vorentscheidungshaftes einbringen und so die Aufspürung eines Lebensmaßes (vielleicht formuliert als glückliche Richtigkeit, geistesgegenwärtige Zusammenschau o. ä.) von vorneherein nicht zustande bringen. Das wurde und wird auch eingestanden, zumeist allerdings nicht mit der Folge einer bescheidenen Selbstzurücknahme – „Das menschliche Subjekt mit seiner subjekthaften Angefordertheit kann von Wissenschaft nicht mehr authentisch beschrieben werden“ ‑, sondern die Grenzen der wissenschaftlichen Erschließung bestimmen dann unter der Hand die Grenzen des zu Erschließenden.
Viel akute oder verkappte Ideologie schwingt hier auch mit. Wenn etwa der neomarxistische Philosoph Louis Althusser einer Subjektkonstitutivität von Ideologemen das Wort redet – in verfeinernder Kontinuität zur marxenschen Selbstkonstitutivität in klassengeprägter Daseinsrealisation ‑, ist damit eine massive Politisierung in das Innerste des Subjekts hineinverlegt. Im real existierenden Sozialismus der letzten Jahrzehnte kämpfte man ja ausdrücklich gegen Totalitarismen, auch im Sinne einer Läuterung seiner selbst, aber führte den Diskurs stets innerhalb der eigenen Nomenklatur, mehr oder weniger streng entlang der historischen Vorgabe, dass gemäß den Produktionsverhältnissen Bewusstsein gebildet werde. Das verquickte sich dann insbesondere mit der Psychoanalyse Freuds und prägte so eine psychologisch-politische Intellektualität weltweit. Und das menschliche Subjekt verlor bei tonangebenden Philosophen schließlich jede substanzielle Eigenrealität und wurde etwa als ‚Strukturelle Unmöglichkeit‘ ausgewiesen, die alte Frage nach dem Subjekt dabei so gewendet, dass die Unmöglichkeit einer gänzlichen Selbsterschließung des Subjekts für das Subjekt genau das Subjekt ausmache – nur eben nicht in dem Sinne, dass da noch etwas (Unerschließbares Tieferes) substanziell gegeben sei, sondern unser Subjekt-Sein sei positiv dieses Unvermögen und das Subjekt positiv das entsprechende Nichtseiende.
Da wird mit einem so kecken wie schludrigen Schritt, der seine erkenntnistheoretische Abgründigkeit nicht durchschaut, der Spieß umgedreht und aus der Nichtbeschreibbarkeit des Subjekts die Beschreibbarkeit des Subjektnichts. Eine lange Vorgeschichte von denkerischen Plastifikationen abstrakter Gehalte, denen keine originär anschaubare oder erlebbare Gegenwertigkeit mehr entspricht, hat solchem Denken-in-Sprache zu seinen Ergebnissen verholfen. Diese Plastifikationen stellen Überidentifikation dar, und zu forsch auf sie aufzusetzen heißt identitätstechnisch, dass jemand in einem fertigsprachlichen Abgreifdenken unterwegs ist. Das Lebensmaß, als der fertigen Identifikation und dem sprachlich fertig Identifizierten und Präsentierten vorausliegend, ja den Weg bis zu einer jeweils findbaren Sprachlichkeit identifikationsvorbehaltlich ‚störend’, ist hier von einer dynamisierten Eigenmacht des Terminologischen überdeckt. Das trifft gerade auf Strukturalismus und Poststrukturalismus fast in Gänze zu: Man bricht zwar unsere Erkenntnisgeflechte auf kleinstmögliche Einheiten herunter, setzt aber mit dem Vorgang solcher Dekonstruktion eine umso größere Einheit, nämlich ein hochgradig identitätswirksames Vorzeichen, wie man sich mit Letztgültigkeit auseinanderzusetzen habe.
Signifikat (ein zu Bezeichnendes) und Signifikant (das materiell Bezeichnende) ließen sich nicht voneinander trennen, ohne auf eine notwendig ideologische Metaebene zu rekurrieren, also werden sie möglichst in eins gesetzt. Manche Vertreter der Sprachphilosophie, wie die amerikanische Gender-Philosophin Judith Butler, setzten unser Verfasstsein in einem tradierten Sprach- und Kulturzusammenhang gleich als ein absolutes voraus, soweit, dass gelebte Sprache gar unser unhintergehbares Begreifen von Körperlichkeit (etwa die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen) erst bewirke. Hier hat sich dann ganz eindeutig etwas plastifiziert, aber nicht Geschlechtszugehörigkeiten, sondern die Denkinstrumente einer Ideologin, die einer Ideologiekritik im eigentlichen Sinne auch nicht mehr zugerechnet werden kann. All diesen ideologiekritischen Ansätzen gemeinsam aber ist eine vertrackte Methodisierung, Hypostasierung oder mindestens sprachliche Fixierung von Gewährleistungspunkten. Etwas wird immer als Anker für Richtigkeit installiert, genauer als Aufweis für wissenschaftliche Besprechbarkeit.
Im Zuge der Aufarbeitung des 68er-Phänomens gerät die Frage nach Ideologie als solcher – gemäß unserer Terminologie: eine offensive Verfehlung des Lebensmaßes – auch immer wieder in einen breiteren Fokus. Auf allen Kanälen wird dann eine Zeit, die sich ihrerseits schon über ambitioniertes Analysieren definierte, populäranalytisch beleuchtet. Aber damals wie heute realisiert man dabei kaum, dass die angewandte Analytik nicht in den Kern einer Sache reichen kann. Schon die ‚Dialektik der Aufklärung’ von Horkheimer und Adorno lief letztlich auf eine technisierte Darstellung ihres Gegenstandes, also des selbstentfremdend subjekt-technischen Denkens der Moderne, hinaus, und das seelische Herkommen alles Denkens und Begriffsbildens wurde zwar tief aber nicht tief genug thematisiert. Gleiches gilt erst recht für den zeitgenössischen Existenzialismus. Er hat eine allzu eloquente Positivierung unserer ‚Existenzialien’, schließlich des gesamten menschlichen Daseins entwickelt. Und mehrere Generationen von Intellektuellen trugen und tragen solche menschenkundliche Versiertheit wie einen Katalysator ihres Denkens mit sich herum. Auch heute werden Begriffe wie totalitär und intolerant fast traumwandlerisch routiniert gebraucht, durchaus auch in selbstkritischer Stoßrichtung, aber dabei nicht in der nötigen Tiefe geführt.
Sie sind von vorneherein gesellschaftstheoretisch eingepackt und auf mediale Wirkung hin verinnerlicht, was real bedeutet mit Selbstbespiegelung und massiven identitätshaften Dynamisierungen versetzt. So geht es vielleicht am auffälligsten in den TV-Talkrunden, aber ohne dass es die Beteiligten wirklich realisieren würden, permanent um Selbstdarstellung und intellektuell aufgeblasene Selbstbeheimatung. In authentischer Tiefe sollte es um Ideologisierung als solche gehen, und diese beschreibt ein geistiges Naturell, aber grundlegend, nicht von vorneherein mit Begriffen wie faschistoid etc. politisiert und dynamisierend überdeckt. Also, ein Naturell der geistigen Erschließung, das sich in verschiedensten (z. B. politischen) Gestalten manifestieren kann und folgender Art ist: Die Gehalte sind zweitrangig, eine getriebene Vehemenz in der Identifikationsnatur bestimmt das Denken.
(Jenes ‚Eifern nach Identität’, welches von Adorno schon machtpartizipativ, also in psychologischer und soziologischer Figuration gedacht wurde, ist damit nicht deckungsgleich, sondern stellt eher schon einen Spezialfall dar. Das Phänomen Überidentifikation in seiner ersten Tiefe könnte nur in phänomenologischer Nahbetrachtung, einer Art Selbstversuch von unerbittlicher Eigenbetrachtung ‚beim’ Identifizieren aufgespürt werden. Solches führt natürlich sofort in tiefgreifende Interferenzen und Turbulenzen, weil damit – real wirksam – jegliche Identitätseffekte zur Disposition stehen, auch jene, die sich bei der kritischen Absetzung selber ergeben.)
Bei seinen Identitätsanknüpfungen von Vorlieben bestimmt zu sein, also im Tieferen eine Fortführung des Selbstbildes anzustreben, ist grundmenschlich und ein zunächst noch unverdächtiges Konstitutivum aller Kultur. Falls aber das vorherrschende Identifikationsnaturell eine rigorose Überidentifikation darstellt, ist aus Vorliebe zwanghafte Leidenschaft geworden. Als typisches Beispiel hierzu mag Gudrun Ensslin angeführt sein, die fast nahtlos von einem aktivistischen Protestantismus zu einer aktivistischen, recht bald terroristischen Gesellschaftsveränderung strebte, zuletzt ging es nur noch um: Aktion. Natürlich sind die Beispiele unübersehbar zahlreich, der Linksanwalt wurde zum Rechtspopulisten, die eifernd tugendsame Klosterschülerin avancierte zur rigorosen Feministin mit der reinen Lehre, der verkannte Künstler stilisierte sich zum Gesamtkunstwerk auf der politischen Bühne. Was hier so trocken nebeneinander gestellt ist, hat eine (sich jeweilig dynamisierende) Kontinuität im Identitätsnaturell gemeinsam. Auch ganze Milieus können die Vorzeichen wechseln, Zeitstimmungen die Affekte konträr entgegengesetzter Zeitstimmungen verkappt in sich abbilden.
Was die Umbruchstimmung anno ´68 betrifft, wurde von Jürgen Habermas sehr zeitnah, schon in der Hitze der ersten Konfrontation, von Linksfaschismus gesprochen. Ähnliches hörte man zunehmend von Leuten aus den aktiven Zirkeln selbst. Götz Aly hat in unseren Tagen dann ausdrückliche Parallelen gezogen zwischen der 33er- und der 68er-Jugend. Analogien unter diesem Fokus bieten sich natürlich an, weil hier eine Jugend angetreten war, den Faschismus der Vätergeneration zu überwinden, aber sie sind in sich, also ihrer Methodik nach, ausgesprochen problematisch. Das zugrundeliegende tiefere Problem kann, wenig zielführend, mit solchen Zuschreibungen auch historisiert werden. Echte Kommunikations- und Extremismusforschung wird sich hüten, Totalitarismen vorschnell in zeitgeschichtliche Raster zu packen. Sie sind eben auch: geschichtlich jeweilige Manifestationen einer tieferen, sozusagen übergeschichtlichen Konstante, nämlich des menschlichen Sündenfalls, sich des Lebens und der Wahrheit bemächtigen zu wollen.
Totalitarismen zeichnen sich dadurch aus, dass eine heischende Totalität der Identifikation alles richten soll. Diskurse sollen, unterschwellig aber unerbittlich, durch einen leidenschaftlichen Gestus entscheidbar sein. Dieser Gestus wiederum meint eine (wie auch immer sich konkret ausprägende) Selbstgenüsslichkeit darin wie ich zu identifizieren beliebe, also auf welchen Daseinsansatz ich mich immer wieder rigoros zurückziehe, wie ich rigoros da-sein will. Wir haben es dabei mit einem so zeitlosen wie breitesten Phänomen zu tun. Offenkundig trifft es heute z. B. für poppig-peppige Zeitgeistmedien zu, verdeckter für säuerlich bürgerliche Zeitungskolummnen. Die genüssliche Egozentrik tendenziösen Auffassens haben wir bei der flink spitzen Intellektualität in manchen Studentenkreisen wie bei dem – jetzt ein Sprung, der aber identitätstechnisch gar nicht so groß sein muss – abgebrühtest ruhigen Gewissen der islamistischen Massenmörder.
Eine identitätshafte Selbstbeheimatung über Gebühr, Überidentifikation, ist hier also das gemeinsame Problem. Es kann die akut gefährliche Gestalt eines Affekts ‚gegen die Bösen’ einnehmen, es kann aber auch eine längerfristig, vielleicht erst nach Generationen wirksame Gestalt von hemmungsloser wie hilfloser Egozentrik annehmen. Und niemand sollte etwa so naiv sein zu glauben, dass die gegenwärtige Schlagseite in unserer Mediengesellschaft, ein immer allgemeinerer und härterer werdender Selbstdarstellungszwang, ohne Folgen bliebe.
Sein durch Schein. Das Identitätshafte ist entsprechend längst einer Professionalisierung unterworfen, aber nicht in dem selben Maß einer Authentisierung, eher im Gegenteil. In Castingshows wird beklemmend deutlich, dass sich zwar alle bemühen, inbrünstig und authentisch zu sein, dieses aber verwechseln mit hemmungsloser Identitätstotalität. De facto hat man sich dabei gesellschaftlich favorisierten Rollenbildern unterworfen. Wenn es in meiner erworbenen Identität nicht vorkommt, einmal für keinen etwas gewesen zu sein, dieses auszuhalten, mich nach höherer Sinngebung auszustrecken, die nicht in gesellschaftlichen Images untergebracht ist, wenn also mein Selbstvollzug immer festgemacht war an Vorentscheidungen, wie ich auf Erwartungen zu reagieren habe – stehe ich in subtiler doch dramatisch umfänglicher Versklavung. Ein kaum greifbares aber tiefes Leiden von allergrößter Verbreitung gerade im westlichen Kulturkreis. Damit sind nicht die klassischen Selbstfindungsnotoriker gemeint (diese Generation ist auch gerade am Abtreten), sondern der klassische Normalo 2009, wie er sich auf eine Kultur verwiesen findet, die ihn nicht mehr beheimaten kann aber ihn desto offensiver beheimaten will. Und da hängt er drin. Sein Selbstvollzug erspart sich die Letzt-Dringlichkeit, wobei er eine mangelnde Authentizität seiner selbst ohne die Möglichkeit, das zu durchbrechen, empfindet.
Er will es empfindend, genießerisch fühlend durchbrechen, und darin liegt auch schon das Problem. Verfolgen wir an dieser Stelle nur eine grobe Entwicklungslinie der sogenannten Anthropozentrischen Wende. Francis Bacon erhob das Experiment zur wissenschaftlichen Autorität und gab so dem damaligen Menschen ein Instrument an die Hand, sich von geistlichen Autoritäten zu lösen; Descartes sprach „Ich denke also bin ich’ und hievte die menschliche Selbsterfahrung in den fragwürdigen Rang einer beweiskräftigen Erfahrungstatsache; Immanuel Kant hat die Wirklichkeit als von der menschlichen Wahrnehmung konstituiert beschrieben; Kierkegaard die lebengeschichtlich erwirkte Subjekthaftigkeit; Schopenhauer und Nietzsche haben ein willentlich herbeigeführtes Da-Sein beschworen; Freud, Heidegger und die Existenzialisten sowie verschiedene Pioniere in den Humanwissenschaften und Künsten haben dann eine professionalisierte und auf eine Weise abgreifbare Darstellung dieser Konstitutivität auf den Weg gebracht. Und: das menschliche Individuum findet sich seither herausgefordert, anhand eines professionalisierten Zugangs die Optimierung seiner selbst zu erwirken. Die Egozentrik ist zu einer Art moralischen Pflicht sich selber gegenüber geworden.
Aber keiner von den genannten Wegbereitern hat tief genug geschürft. Auch der wohl tiefste von ihnen – Kierkegaard – trug noch eine massive Positivierung und, gerade in der Nachwirkung, eine problematische denkerische Händelung in einen Bereich hinein, der unsere Intellektualität übersteigt. Jener ‚Bereich’, er beginnt spätestens dort, wo wir das Lebensmaß veranschlagt haben und führt dann ins unergründlich Intentionale. Doch das virtuelle Psycho-Instrumentarium, wie es zum neueren Bildungskanon gehört, hat sich sukzessive in einen allzu praktischen, aber das Eigentliche verfehlenden Werkzeugkasten der Lebenshändelung verwandelt. Folgerichtig stagniert heute die Besprechung und Bearbeitung menschlicher Subjektivität und Individualität. Und auch die gereift auftretenden Alt-68er kommen von ihrer Denke in politisierter und psychologisierter Fertigbegrifflichkeit nicht mehr weg.
Es gibt einen Ausweg, und der ist immer möglich und er findet ja auch millionenfach jeden Augenblick irgendwo bei irgendwem statt, nämlich den aufrichtigen Blick in unser Inneres. Das muss von uns nicht erfunden werden, sowenig wie wir Identität denken müssen (und können müssen.) Wer sich aber von der denkerischen, wissenschaftlichen Seite annähern will, sollte sich von einem Absolutismus der Quantifizierbarkeit alles Seienden gelöst haben. Eine Konsistenz des Subjekthaften wird solches – und wenn auch im breitesten Sinne – materialistisches Denken nie aufweisen können. Und wenn aus der Dekonstruktion die Negation folgt, wie derzeit hingenommen in weiten Kreisen der Philosophie, sollte man sich tatsächlich der Frage aussetzen, ob nicht die Dekonstruktion unter Berufung auf umso weniger dekonstruierbare Vorzeichen, faktisch also mit umso mehr verselbständigten Denkeinheiten erfolgt. Unser Begriff des Lebensmaßes kann somit nur schwerlich auf einen wissenschaftlichen Status Quo des Diskurses aufsetzen, sondern muss eine persönlich erlebte Freiheit – und dass wir uns beim Identifizieren als immer schon Umgriffene erleben (können) – positiv aufgreifen. Dieses in seiner Wirkung so unbedingt wie subtil erlebte Maß kann auch nicht die in der postmodernen Intellektualität veranschlagte Leerstelle ausfüllen, indem es Subjekthaftigkeit sei oder diese hervorbringe. Es ist dieser konstitutiv nachgelagert so wie Identität – ein Sein-durch-mit-sich-sein-Wollen – unserem originären Sein.
‚Konstitutiv nachgelagert’ ?
(Das kann in diesem kleinen Aufsatz nicht mehr verfolgt werden. Für einen Grundeindruck zu diesem Thema sei etwa an die Ausführung „Intentionalität ~ Zeit – Raum“ verwiesen.)
Freiheit und Rechtfertigung
Der zürnende, leidenschaftliche, eifersüchtige Gott des Alten Testamentes wird heute von vielen Bibelexegeten als reine Projektion betrachtet, als politisch begründeter Ein-Gott mit psychologisch hochwirksamen Alleinstellungsmerkmalen. Aber dieses Gottesbild ermöglichte (nicht nur seinen Missbrauch zur Gefügigmachung der Gläubigen, sondern zuerst:) eine Gläubigkeit der Konsequenzen und Zusammenhänge, sprich ein Sinngefüge, genauer ein Gefüge, wie Sinn wirkt. Gut und Böse, Bemühen und Lohn, Vergehen und Strafe. Und war die entsprechende drakonische Gerechtigkeit immer schon aufgehellt dadurch, dass Gott auch in Zeiten der Strafe und Not Israel nicht vergaß, und dass selbst der Holocaust – durchaus in der Lesart heute praktizierender Juden – nicht ein millionenfach multipliziertes anonymes Leid war, sondern in millionenfacher Jeweiligkeit von Gott mitgetragen wurde, so verheißt der Neue Bund, wie er in Jesus von Nazareth Gestalt annahm, ganz zentral Gottes Barmherzigkeit.
Leider hat das in manchen Köpfen eine lebensfern unlogische Gottesvorstellung hervorgebracht. ‚Eine Vergeltung im Jenseits macht aus der Liebe um der Liebe willen sofort eine Liebe aus Berechnung’, ‚Gott straft nicht, weil er uns mit seiner Verzeihung immer schon voraus ist’, und so weiter. Aber auch die radikale Humanität des Neuen Testamentes entlässt uns nicht aus den oben genannten Verwiesenheiten, wie Sinn wirkt. Jesus hat das Liebesgebot wohl radikalisiert, aber nicht die inneren Bedingungen der Liebe aufgehoben; denn dies kann eben kein Mensch und kein Gott. Die ideale Gesetzlichkeit ist schon gestiftet, da wird sich Gott nicht mehr selbst übertreffen wollen. Das ursätzliche Daseinsprinzip von Ursache und Wirkung reicht auch in die Tatsächlichkeit der Liebe. Und Ursache und Wirkung können nicht in Beliebigkeit übergehen ohne aufzuhören zu existieren. Natürlich warnt Jesus oft vor der Gefahr, dass fundamentale Zusammenhänge zu einem eifrig betriebenen Regelwerk verkommen, aber hieraus eine Theologie der Regelenthobenheit abzuleiten ist in sich unsinnig.
Ganz grundlegend geht es dabei um unsere Freiheit. So war die Kerndebatte der Ökumene von Katholiken und Protestanten auch immer eine Debatte um wahre Freiheit. Freilich, wenn es in dem aktuell amtlichen Papier hierzu, der Augsburger Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, heißt, unsere Freiheit gegenüber den Menschen und Dingen in der Welt sei keine Freiheit auf unser Heil hin (Punkt 19), so liegt darin eine defizitäre Phänomenologie unserer Freiheitsaktionalität als solcher. Lebensweltliches Verfügenkönnen wäre also die eine Seite, gnadenbezügliches Nichtverfügenkönnen die andere. Es wird zum einen an unserem Wollenkönnen festgehalten, zum anderen würde das aber nicht in Gottes Gnadenwirken hineinreichen. Als neuralgischer Punkt erscheint dabei die Unterscheidung: Akt – Werk. Die Bejahungsfähigkeit des Menschen sei zu unterscheiden von einer Wirkfähigkeit. In den Punkten 20 und 21 wird das präzisiert: dass auch die katholisch verstandene Zustimmungsfähigkeit nicht als Eigenwirksamkeit gelten könne, bzw. es wird protestantischerseits einer zugestandenen Ablehungsfähigkeit nicht das Positivum einer verdienstvollen Zustimmungsfähigkeit gegenüber gestellt.
Hier ist die Untersuchung der menschlichen Initiativität zwar mit ausgesprochener Akribie betrieben worden, aber unter doktrinär verständigungspflichtigen Vorzeichen. Die eingebrachten Begriffe werden dabei hin und her gewendet, aber sie bleiben stehenden Charakters, und eine Phänomenologie der Entscheidungsinitiative wird eher überdeckt als eröffnet. Was geschieht beim initiativen Ja oder Nein? Wie wirkt es fort in willensgestaltliche und lebensweltliche Manifestationen hinein?
Die willensgestaltlich natürliche ‚begleitende Betrachtung’ des Wollens beim Wollen, von der aus sich auch eine natürliche Mitkonstitution jenes Wollens ergibt, gilt es in den Blick zu nehmen. Unsere Wesensbildung unter reflektierender Selbstgewahrung ist das funktionelle Medium des Wollens. Sie ist zwar äußerlicher als das je initiative Ja in den willentlichen Vollzügen, aber dieses mitkonstituierend. Und solches Verhältnis muss, wo es um die nähere Bestimmung von Willentlichkeit und Initiative geht, erkundet werden. Das bedeutet hier also: „Alles durch Christus!“ – ja! aber in welcher Gestaltlichkeit vollzieht sich das? Und ob das eigene initiative Ja zu Gottes Willen verdienstvoll zu nennen ist oder nicht, bleibt hinsichtlich des Bejahungsaktes als Vorgang erst einmal nachrangig.
Wir sind nur auf unser Heil hin frei, auch innerhalb unseres Verhaltens gegenüber den Menschen und Dingen sind wir nur auf unser Heil hin frei. Im Tiefsten initiieren sich alle unsere lebensweltlich und seelengestaltlich manifestierten Entscheidungen aus Lieben-oder-nicht-Lieben heraus, und ‚nur‘ diese Initiative geschieht frei. Sie ist der Kern unserer lebensweltlich sich ausgestaltenden Vollzüge und deren ganzheitlichen Erlebens. Und Freiheit in diesem ureigentlichen Sinn lässt sich weder aufspalten in zweierlei Freiheiten – eine konkret lebensweltliche und eine tiefer liebesbezügliche ‑, noch überhaupt von konkreten Manifestationen her definieren. Das schließt selbsttätiges Gerechtfertigtsein durch konkrete Äußerlichkeiten aus (wogegen Luther kämpfte) wie auch die Definierbarkeit von Freiheit über konkretisierte Innerlichkeit (was Luthers Ansatz beförderte.) Beidem liegt eine massierte Identifikation > Konkretisierung eines nicht identifizierbaren (erkennbaren) Innerlichen zugrunde.
Martin Luther hat einen unauflöslich sperrigen Denkansatz in die Welt gebracht. Konkret resultiert seine Rechtfertigungslehre, dass nicht die guten Werke, sondern allein Gottes Gnade einem Menschen Gerechtigkeit verliehen, wohl aus einer besonders kräftigen Auslegung des Römerbriefes. Wie dazu in der theologischen Tradition kunstvolle wie verkünstelte Systematiken Platz gegriffen hatten, war es dem Reformator nun um eine beherzte Demut gegenüber dem ursprünglichen Schriftlaut zu tun. Wenn aber Paulus schreibt, ‚ihr steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade’, ist dem nicht ohne weiteres ein Schlagwortcharakter beizumessen, die ursprünglich beabsichtigte Stoßrichtung wird so oder so weit korrektiv angelegt gewesen sein, eine Reaktion auf das Verharren der Christen in der mosaischen Gesetzesfrömmigkeit. Wie z. B. auch Augustinus´ berühmter Spruch: „Liebe und tu was du willst!“ weniger eine Anrufung: „Liebe!“ darstellt, sondern mehr philosophischen Charakter hat und intellektuell einsichtig machen will, dass Liebe unmittelbar (also etwa gerade nicht in Bemühung eines schlagworthaften „Liebe!“) ins konkrete Wollen eingeht. Sich auf einen Wortlaut zu verlegen, und sei er noch so ausdifferenziert, um eingeschliffene Buchstäblichkeiten zu überwinden, trägt sofort neue Verabsolutierungen in sich.
Im Zuge der Reformation kam die Buchstabentreue der Pharisäer durch die Hintertür wieder herein, wenn auch auf den Kopf gestellt. Speisegesetze usw. einhalten, um damit auf der Sicheren Seite zu sein, erst recht natürlich der zeitgenössische Ablasshandel, waren ein Hohn auf den grundlegenden Zusammenhang von Liebe und Tat. Aber ein solcher Missstand lässt sich nicht beheben, indem ich diesen Zusammenhang ostentativ Gott überlasse > aus meiner unmittelbaren Identitätsbildung herausfallen lasse > identitätsreal so und so weit auflöse. ’Ohne Werke ist unser Glaube tot’ – gerade die evangelische Kirche hat ja diesen Aspekt immer stark betont, als authentische Nachfolge Christi, auf dass wir im (rechtfertigenden) Geschenk des Glaubens stehen können. Doch gemäß dem Naturell menschlichen Wollens bildet sich mit einem konkretisierenden Abheben auf Selbstergebnishaftigkeit (etwa: ‚meine Person als glaubende’) sogleich Ichkonzeptionalität aus; ich verfahre dann mit meinem Ich. Unterschwellig verführt also die reformatorische Ablösung des früheren Wenn-ich-tue-bekomme-ich durch ein Wenn-ich-tue-glaube-ich (beides vereinfachend zugespitzt formuliert) zu einer Selbstzusprechung des Gnadenstandes, zu einer Gnadenspiritualität außerhalb ausgeliefert ichbildnerischer Willenskonkretisierung.
Dass uns das Heil geschenkt werden muss, wird gerade bei Betrachtung unserer Ökonomie der Wesensbildung > des Wollens deutlich, dergestalt, dass jede Selbstrechtfertigung mit liebesblockierender Wesensrigorosität verbunden wäre. Das Innere des ‚Kerns’ ist eben wieder die Selbstmitteilung Gottes, über die wir nicht verfügen können; und darin liegt ja auch die Stoßrichtung jener ökumenischen Erklärung. Aber der Freiheitsbegriff, mit dem sie operiert, lässt sich so nicht halten. Freiheit ~ Willentlichkeit ist überhaupt erst gegeben im Gegenüber zu den Anrufen und Angeboten der Liebe. Und dass wir diese Liebe nicht ausloten oder sie uns auf Lebensprogrammatik hin unterwerfen können, unterstreicht nur, dass alle Freiheit erst in Bezug auf Gott stattfindet.
Intentionalität~ Zeit - Raum
Was ist Zeit? Gibt es Zeit überhaupt real oder existiert sie vielleicht nur als Kategorie des menschlichen Geistes? Unwillkürlich legen wir sie an die Dinge an, jedes Geschehen hat seinen Zeitpunkt, der sich auf ein paralleles oder verschobenes Stattfinden anderer Geschehnisse bezieht. Unsere Zeitrechnung schließlich basiert auf einer skalierten Unterteilung von Planetenbewegungen, also dem Ablauf gleichförmigen Geschehens am Himmel, beobachtet von unserem (auch schon bewegten) Bezugssystem aus. So hat eine Stunde die reale Entsprechung einer Skaleneinheit bei entsprechend unterteilten, auf unser System bezogenen makrokosmischen Prozessen. Im 20. Jahrhundert hat man dies dann in Entsprechung zu den Schwingungen eines Quarzkristalls oder atomaren Angleichungsprozessen gebracht. Gemäß den neuen Erkenntnissen, dass eine Eigenbewegung des Zeitnehmers die Zeitnehmung real beeinflusst, wurde jene sozusagen ins Innere der Materie verlegt.
Wenn die Eigenbewegung eines Systems zu schnell wird und sich damit der Verlauf der Zeit anzeigenden Prozesse ändert, wie bei dem bekannten Beispiel einer Uhr im Flugzeug, kann man z. B. nicht eindeutig mehr von einer Stunde sprechen. Und das ist inzwischen Allgemeingut geworden: „Es gibt nicht die Zeit!“ Spätestens seit der Relativitätstheorie wüssten wir das. Trotzdem objektiviert sich unser Begriff der Stunde schon, sowie wir nur seine Systembezogenheit bedenken. Daraus gewinnen wir zwar noch nicht die Stunde, aber die Absolutheit eines Verhältnisses: Wir sind es, die Zeit bemessen und darüber reflektieren. Zeitbemessung bringt einen Zeitbegriff hervor, und ein solcher ist per se relativ sowohl zum Begreifenden als auch zum Begriffenen. Nicht die Zeit als womögliches Absolutum ist dabei ins Wanken gekommen, sondern nur die Absolutheit jeglichen Zeitbegriffs. Dieses Verhältnis aufzuhellen ist aber tatsächlich weniger ein Feld der Physik als eines der Philosophie.
Zumeist wird es verrechnet in einen Topf geworfen: Zeitlichkeit, wie sie anhand vermessbarer Abläufe zu eruieren ist, und Zeit, wie sie ihrem originären Sein nach zu definieren sei. Damit sind nicht die ‚originären’ Erlebensmuster von Zeit gemeint, versteht sich, welche von der aktuellen Zeitforschung beschrieben werden und die sowieso beim subjektiven Erleben endigen. Es geht hier um den Anspruch der Physik, die Zeit objektiv als relativ definieren zu können. Ein verfehlter Anspruch.
Seit der Relativitätstheorie wird die Zeitlichkeit von Ereignissen meistens gleichgesetzt mit der in ihnen ‚enthaltenen’ Zeit, also einem prinzipiell herausrechenbaren Faktor ihrer Dynamik. Die Zeit wäre nichts anderes als Teil des dynamischen Auftretens von Dingen. Man reduziert sie faktisch auf einen vermessbaren Eintrag in Wirkzusammenhängen. Vereinfacht dargelegt: Wenn etwa Geschwindigkeit als Weg pro Zeit bestimmt ist, V = s/t, dann eben die Zeit als Weg mal Geschwindigkeit – die Zeit (!) Das setzt sich fort bis in die komplexesten Berechnungen, man identifiziert den Faktor t in den physikalischen Gleichungen mit der Zeit als solcher. Aber t, das ist nichts weiter als Fortbestand innerhalb einer schon auf etwas bezogenen – das auch seinerseits schon zeitlich eröffnet sein muss – Zeitrechnung. Darauf sind unsere physikalischen Größen abgestimmt, vom Gewicht bis zur Elektrizität definiert sich alles in Abhängigkeit von gemessenen Zeitabläufen innerhalb von Bezugssystemen. Und wenn auch Albert Einstein genialisch eine feststehende Begrifflichkeit zu Energie und Materie aufgebrochen hat – sagen wir auf einen Komplementär-Urstoff hin, der gemäß Bewegungsverfasstheit wandelbar raumgreifender oder massezentrierter in Gestaltungen tritt ‑, waren seine Terme positiv doch Formelumwandlungen, die weiterhin streng auf Weltvermessungsbegrifflichkeit bezogen blieben und von daher erkenntnistheoretisch begrenzt.
Einstein hat die Begriffsverwiesenheit in der wissenschaftlichen Daseinsannäherung modifiziert, aber dabei eher noch verschärft als überwunden. Er operierte weiter mit konventionell herangebildeten Begriffen und Abstraktionen, ihre empirische Abgleichbarkeit zwar neu herausfordernd, diese klassische Begrifflichkeit aber doch allzu kühn einbringend in seine synthetischen Begriffe, auf die sich jemand, so er Einstein folgen will, mit einiger Vehemenz verwiesen findet. Das ist vielleicht grundmenschlich, doch hat er eben nicht die Verbindung von Raum und Zeit aufgedeckt, sondern jene von Masse, Energie, Bewegung und Räumlichkeit systemtheoretisch homogenisiert.
Unsere Raumfahrt verdankt sich zwar, so wie manch andere Arbeitsfelder der Gegenwart, dem relativistischen Aufbrechen eines vormals plastifiziert aufgefassten euklidischen Raums, aber nicht der neuen Raum-Zeit-Lehre. Raumstationen und Satelliten werden platziert anhand relativistisch berechneten Masseverhaltens in Schwerefeldern, ohne dass man sich aber darum kümmern müsste, ob das nun auf eine Raumkrümmung zurückgeht oder auf eine sonstwie definierbare Fernwirkung von Massen. Man arbeitet mit empfangenen Signalen, zwar in anspruchsvollen, RT-basierten Algorithmen hochgerechnet, aber nicht mittels Raumpositionen auf einer Zeitachse etc. Solch explizite Modellhaftigkeit wird den Gymnasiasten eingepaukt, aber nicht im NASA-Rechenzentrum exerziert, sie ist weiterhin der Theoretischen Physik vorbehalten.
Die Moderne Physik mit/nach Einstein hat die ballistischen Berechnungen unserer Raumfahrtbehörden möglich gemacht, aber auch einem systemimmanent totalitären Verständnis des Seins den Boden bereitet. Es wurde zwar eine neue – im Mikro- und Makrobereich erst praktikable – Bestimmung von Materie~Energie eröffnet, aber dazu eine abenteuerlich hypothetische Philosophie über Raum und Zeit begründet. Die kategorialen Zuordnungen und Einstufungen ihrer Begriffe – was sagt etwas aus – sind oft geradezu unontologisch zu nennen. Dem entsprechend wird es dann schlichtweg übersehen, wenn etwas, das eigentlich erwiesen werden soll, schon in die Grundbegriffe der Beweisführung eingepackt ist. „Wenn die Lichtstrahlen durch große Massen abgelenkt werden,“ so erklärt man uns etwa, „dabei aber die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gewährleistet bleibt, muss es eine Raumkrümmung geben.“ Für sich ein schlauer Gedanke, aber begrifflichkeitsimmanent und in seiner Stoßrichtung ein Zirkelschluss. Es wird schon vorausgesetzt, dass die Lichtstrahlen durch Raum eilen, dass also der eingebrachte Begriff Raum ein Positivum darstellt.
Anhand der Naturkonstante Lichtgeschwindigkeit absolute Aussagen über Zeit und Raum zu machen, erscheint zunächst sehr naheliegend und ganz und gar nicht von einer synthetischen Warte aus gedacht. Experimentell bestätigt hat das Licht auch Massecharakter und interagiert mit (großen) Massen. Und wenn eben das Licht durch große Massen abgelenkt wird, dann werden seine 300 000 Kilometer pro Sekunde auf einer krummen Linie zurückgelegt. Das Licht zeigt uns demgemäß absolute Wege, aber keine absoluten Entfernungen an. Einsteins bekannte Lösung, dass die absolute Konstante Licht sehr wohl absolute Entfernungen mitteilen könne, aber nicht mehr in einem gleichförmig dreidimensionalen Raum, hat uns den Gekrümmten Raum beschert. Das ist so innerphysikalisch genial wie metaphysikalisch doktrinär. Eine krumme Lichtbahn innerhalb eines krummen Raumes ‚gerade’ zu machen, und wenn auch unter Hinweis darauf, dass hier unser Vorstellungsvermögen gesprengt wäre, verlegt diese (die Bahn wie den Raum) doch wieder in unsere ureigene dreidimensionale, real dabei als übergeordnet veranschlagte Betrachtungsweise. Es liegt hier also eine zwar erkenntnistheoretisch zurückgewiesene, aber praktisch doch vollzogene Fehlbetrachtung von Räumlichkeit als solcher vor.
Gerade die Populärwissenschaft kümmert solches wenig. Die Relativitätstheorien bestätigen sich laufend aufs neue, also lässt sich auch bedenkenlos auf ihren Begriffen reiten. „Die Anziehungskraft ist eine geometrische Eigenschaft des gekrümmten Raumes“ heißt es bei Einstein im nächsten Schritt, und so verkünden es auch seine Adepten in den Medien ohne mit der Wimper zu zucken. Aber so wird Begrifflichkeit verabsolutiert, die Wirklichkeit – ja die Totalität des Seins – auf reine Begriffe gemünzt und wie bedingungshaft schon in Begrifflichkeit angedacht. Geometrie und Mathematik sind allerdings theoretische Wissenschaften, die, bei aller Anforderung, der Wirklichkeit gerecht zu werden, diese notwendigerweise in eine eigene Idealität der Beschreibung überführen. Beide Disziplinen spielen den angewandten Wissenschaften nur zu, und wo das umgekehrt geschieht – durch Experimente etc. ‑, machen sie aus den Beobachtungen auch sofort wieder abstrakte Figuren. Und auch der solcherart wissenschaftliche Raum ist weiterhin nur ein Abstraktum.
Dass er uns aufklingt als unhintergehbare Bezeichnung für etwas, und zunächst, dass er die Wissenschaft so motiviert, ihn zu erobern, vielleicht umzudeuten, jedenfalls amtlich zu deuten, rührt von seiner Synonymität zu dem tief tradierten Grundbegriff Raum her, wie er durch Erdzeitalter der Menschheit auf uns gekommen ist, ausgestattet mit einem urgründig mythischen Aspekt. Wer den Raum hat, und das gilt genauso von der Zeit, hat demgemäß ewige Wahrheitsfragen beantwortet. Eine ungeheure Faszination liegt darin. Aber es stellt sich die Frage, ob die Physik wirklich diesen Begriff beanspruchen darf. Sie hebt ja schon im methodischen Ansatz auf reine Vermessbarkeit ab, und ihre Modellbildung auf irgendwie darstellbare Verhältnishaftigkeiten. Tut das jener tradierte Ansatz, von dem die gegenwärtige Naturwissenschaft (wenn auch oft in Kontrastierung) ihren Nimbus als Wahrheit aussprechende bezieht, auch?
Wir werden der Frage nicht im einzelnen nachgehen, schon gar nicht angesichts der vielfältigsten Metaphorik, die es hier auszuloten gälte, sondern fragen ganz trocken: Kann von einem Raum gesprochen werden? Was sehe ich etwa, wenn ich in eine Landschaft blicke? Wolken, Bäume, Sterne usw. Das lässt sich empirisch zuverlässig und damit allgemein zugänglich festhalten. Wenn ich aber sage, ich sehe Weite, liegt darin schon eine Synthese mit rein subjektiven Aspekten, es handelt sich um Abstraktion, die eben nicht mehr empirisch zuverlässig repräsentierbar ist. Immer aufs neue muss sozusagen der Abstrahierende vor Ort sein, um von dieser ‚Weite’ reden. Und vollends trifft das zu, auch wenn das nun wieder kaum jemand wahrhaben will, wenn ich vom Raum spreche. Aufweisbar, also in verlässlich herbeiführbarer Empirie repräsentierbar, existiert nur, womit ‚er’ gefüllt ist, natürlich auch in Eigenschaften wie Ausdehnung, Bewegtheit, aufeinander bezogenen Abständen und Positionen, Durchkreuzbarkeit von elektromagnetischen Wellen, die kein Trägermedium brauchen, und so weiter, also dessen Verfügtheit in räumliches Existieren. Aber diese jeweils konkreten ‚Raumfüllungen’ machen nicht den Raum real. Es ist real, dass wir solche Bezogenheiten und Qualitäten erfahren und sie durch Vergleichung auf eine Weise bestimmen können.
(Doch wer es nun wieder mit Kant hält und das Ganze umdreht – wir könnten überhaupt nicht von einem Raum an sich sprechen, weil jede Vorstellung davon erst aus der menschlichen Erfahrungskategorie Räumlichkeit entspringe ‑, trifft eine genauso absolute Aussage über den Raum. Hierzu müsste sachlich eruierbar und empirisch abgleichbar sein, was Menschen mit ‚Raum’ eigentlich meinen; nicht, wie sie ihn definieren würden, sondern, was in ihnen vorgeht, wenn sie diese Abstraktion vollziehen. Das ist in sich unmöglich, und so ist auch die De-Verabsolutierung von Raum und Zeit zu Parametern der Wahrnehmung unzulässig.)
Gerade eine zu plastische Positivierung wurde ja, in kritischer Auseinandersetzung mit der Allgemeinen Relativitätstheorie, schon recht früh thematisiert. Raum und Zeit dürften nicht als verzerrbare Realien aufgefasst werden. Trotzdem wurde die alte ‚Buchstäblichkeit’ fast übergangslos durch eine neue ersetzt. Die herkömmliche Raumvorstellung konnte man nicht aufrechterhalten, aber blieb dabei, dass es den Raum als solchen geben musste. Wir wollten unser Abstraktum retten und dazu modifizierten wir es. Aber diesen gekrümmten Raum gibt es weiterhin ebenso wenig oder so viel wie den idealen euklidischen Raum. Es gibt aufweisbar nur eine Korrelation von Wirkungen, die eben früher innerhalb eines ebenmäßigen Systems berechnet und aufeinander bezogen wurden, und jetzt im Atomzeitalter innerhalb einer progressiv aufgefassten Räumlichkeit. Beidemal wurde bzw. wird eine Arbeitsdefinition als wahre Identifikation von etwas genommen. Und gerade auch mit der Negation, d. h. unter Betonung, dass hier etwas nicht als etwas zu identifizieren sei, vollzog man (real seelisch) Identifikation. ‚Mit den Gegenständen würde auch der Raum verschwinden’, so erklärte Einstein einmal die neue Räumlichkeit. Das war nicht nur ein Zugeständnis an den eingeschränkten Verstehenshorizont des Interviewers, es lag dem eine (wenn auch negativierte, so doch getroffene) Identifikation des Räumlichen als eigener Seinseinheit zu Grunde.
Dem Raum als einer von physikalischen Wirkungen unberührten Eigengröße folgte die ‚innerphysikalisch‘ sich erschöpfende Raumzeit: So wie die Zeit erst mit den Ereignissen wird, so auch der Raum erst mit den Gegenständen, besser gesagt mit ereignishafter Gegenständlichkeit erst die Raumzeit. Und daraus folgt: Alles ist immer schon in Raumzeit, und jene wird immer erst mit allem. Das ist aber kein höheres Paradoxon, sondern ein Kurzschluss des Denkens, genauer: Eine Denkfolge unter beibehaltenem Anspruch auf eruierbare Gegenwertigkeit des Gedachten (Raum und Zeit bleiben als Raumzeit prinzipiell berechenbar) schlug unvermerkt um in einen Denksprung, der gelten soll ohne besagten Anspruch. Der – riesige – Sprung zum Ursächlichen besitzt keinerlei Ableitbarkeit aus den Raumzeit-Konzept; dieses muss a priori als allumfassend veranschlagt werden.
Dass die fortschreitende Ausdehnung des Universums wiederum als Ausdehnung der Raumzeit selbst und nicht des Dinglichen verstanden wird, also etwa auch mit Überlichtgeschwindigkeit erfolgen kann, wie im Anfangsstadium des angenommenen Urknalls, stellt ohnehin einen sehr erklärungsbedürftigen Meta-Fall in einem ansonsten homogenisierten Gefüge von Bezügen und Bezugsrechnungen dar. Man bedenke: Nur eine stringente ‚Hochrechnung’ der strukturellen Natur der Materie – übergänglich raumexpansiver oder massezentrierter zu sein – auf die Ganzheit des Alls lässt ja die Idee Raumzeit erst greifen. Nur wenn sie überall etwas Dingliches vorfindet, das sich seiner inneren Struktur nach der Raumzeit verdankt, von den subatomaren Bewegungsvariationen bis zu den gedehnten Lichtwellen bei der Rotverschiebung, kann diese Idee Gültigkeit haben. Das schließt natürlich aus, dass es irgendwo und irgendwann auch eine Raumzeit für sich geben könnte, oder: man befindet sich schon mitten in hypothetischer Spekulation bei gleichzeitiger Auflösung des Konzepts.
Derlei Widersprüche im System werden typischerweise damit wegerklärt, dass eben unser Geist mit solchen Ungreifbarkeiten nicht umgehen könne. Unser Denken wollte hier ein Dynamisches in statische Betrachtbarkeit überführen etc. „Alles ist schon in Bewegung, vom Elektron bis zum expandierenden Weltraum, und da drin sind Raum und Zeit als konstitutive Parameter bereits enthalten, und auch die Weiterentstehung dieser Raumzeit. Der Urknall hat das seine getan, jetzt geht’s weiter und weiter, bis das Ganze irgendwann implodiert.“ Solche Antworten belegen aber nur, dass sie die Frage nicht gefunden haben, nämlich die nach dem dimensional Ursächlichen.
Indem die Zeit als Vierte Dimension in unsere Weltvermessung hereingenommen wurde, hat sich auch unsere Seinsbetrachtung verändert. Dass die Zeit auch vom Raum bedingt werde, also relativ zu ihm sei (und beides in der dynamischen Raumzeit aufginge), ist eine Aussage von tiefgreifendster Bedeutung, und solche Relativität – zum stehenden Begriff in Erkennungsprozessen geworden – immunisiert schon begriffstechnisch gegen ihre eigene Relativierung. Wie wir die Grundlagen der Welt sehen wollen, ist in eine Aporie der Relativität eingekapselt, die sich selbst genügt. Jene vierte Dimension – die Raum-Position auf der Zeitachse – zu definieren, um dann jede ontologische Schichtung von Seiendem aufzulösen in der Raumzeit als einer Superdimension des Einfach-Seins, schafft die Dimension des Ursächlichen nachgerade ab. Und verkennt jegliche Erfahrbarkeit einer Hierarchie des Seins.
Begriffe wie ‚Gekrümmte Raumzeit’ oder ‚Raum-Zeit-Kontinuum’ verdunkeln den Sein vermittelnden Impuls des Zeitlichen. Jeder Gegenstand ist zwar schon unterwegs, wenn wir ihn vermessen, auch der Berg, den die Gravitation zum Erdmittelpunkt zieht. Die Zeit erfasst aber nicht nur den Status seines Unterwegs-Seins und – so weit davon bedingt – energetisch~raumgreifend gestaltlichen Seins, sondern auch die Tatsache seines Da-Seins, seine Zugehörigkeit zur Gesamtheit alles Dinglichen, die jetzt ist. Das lässt sich freilich nicht physikalisch aufweisen, sondern allein erlebnishaft wahrhaben, etwa aus einem rätselhaften Selbsteindruck von Zeitüberhobenheit heraus, also von einem erlebten Verhältnis zur Ganzheit des Dinglichen her.
Wohl haben uns verschiedene Wissenschaften längst darüber belehrt, dass solche Eindrücke Illusionen oder Projektionen seien, die z. B. einem evolutiven Zweck dienten; auch hier ist aber zu fragen, welcher – unterschwellig dynamisierten – Motivik jene wissenschaftliche Ideenfindungen wieder unterliegen. Und keine, erst recht keine methodische, Wissenschaft kann unseren Daseinseindruck umfangen. Sie kann ihn höchstens aushebeln, indem die Menschen dann ihrer tieferen Eindruckshaftigkeit nicht mehr trauen.
Was immer so kryptisch als Relativität der Zeit beschrieben wird, ist jedenfalls ein hochgradig synthetisches Konstrukt des Denkens und entspringt konkret einer verabsolutierenden In-Eins-Setzung von Zeit-Tatsächlichkeit und Zeitnehmbarkeit. Relative Zeitlichkeit, ermittelt aus Prozessen, die zueinander in Beziehung stehen, im gelebten Alltag durchaus mit einer metaphorischen Note als ‚Zeit’ geführt, ist unter den Händen der Wissenschaft zu der Zeit als solcher geworden. Diese aber bezeichnet, so ist das unserer unmittelbaren Intuition gegeben, die Seinsdauer des ganzen Zusammenhangs.
Zeit : tief und unmittelbar ist sie das stets neue Dass des Alls, das parallele Sein alles Jetzigen, aufgewiesen durch die menschliche Grunderfahrung eines Nebeneinander-her-und-darin-Miteinander-Geschehens. Diese Zeit mit den Dingen übersteigt den Zeitbegriff der klassischen Physik von einer Zeit ohne die Dinge, aber auch den der modernen Physik von einer Zeit in den Dingen.
Die klassische Physik betrachtete die Zeit als Medium, das unabhängig von den Dingen ‚träge dahinfließt’ (I. Newton), also vorausliegend einfach da ist. Sie war aber damit auf eine Weise noch näher dran am Wesen des Zeitlichen als die moderne Physik. Denn für letztere existiert alle Zeit erst in den Dingen, und beides, in einem gemeinsamen Sein, ist einfach da, unvermittelt. Da ist kein Platz für Seinstiefe, etwa eine Unterscheidung Hervorrufendes Sein und Hervorgerufenes Sein, auch nicht für eine Zeit als Medium des Stattfindens. (Unsere Zeit mit den Dingen hier noch präzisiert als Zeit in die Dinge.) Doch so erleben wir sie, ursprünglich.
Leider ist mit der Relativitätstheorie die Überlistung unserer grundmenschlichen Auffassungsnatur fast zu einer Art Beweis dafür geworden, dass sowieso alles ganz anders ist. Das lässt man sich genüsslich auf der Zunge zergehen. Auf allen populärwissenschaftlichen Ebenen werden pseudophilosophische Folgerungen aus diesen Gleichungen verbreitet. Dabei weiß man nicht eigentlich, wovon man spricht, bzw. hat die Frage nach einem Wesen der Dinge als prinzipiell unlösbar oder gar unsinnig abgeschafft. Das schematische Fachdenken verselbständigte sich konsequenterweise, jedwede Metaphysik in dem Bereich fast eliminiert.
Die ontologische Konfusion wird auch, wie schon kurz beschrieben, recht entscheidend bedingt durch ein Fehlverständnis davon, was uns das Licht über den Zusammenhang von Zeit und Raum mitteilen könnte. Grob formuliert: Das Licht ist überall gleich schnell, weil es als elektromagnetische Welle kein Trägermedium braucht. Es bewegt sich aber auch mit der unübertrefflich größten Geschwindigkeit, denn was sollte schneller sein als ein Photon (als Quantisierung des Anregungszustandes von Atomen sozusagen ein durch Bewegtheit geschaffenes Teilchen), ohne vorher schon Licht geworden und somit ‚als Materie‘ auch schon wieder aufgelöst zu sein, weil ja das Photon komplementär auch Welle ist. An diesem absolut äußersten und zugleich überall gültigen Übergangspunkt des ‚Stoffs aus dem alles ist‘ – ob als Materie, teilchenartig, oder als Energie, wellenförmig – verflossen also Raum und Zeit. Das Licht sozusagen als Absolutum der Verbindung von Raum und Zeit. (Und welche Blüten das getrieben hat: Das Licht als Zeit-Trägermedium, Zeitreisen, wenn es uns möglich wäre schneller zu sein als das Licht…)
Vom ‚Grenzphänomen’ Licht her lassen sich Überlegungen zu Räumlichkeit~Bewegung anstellen, aber mit der Zeit hat dieses Licht nichts weiter zu tun, als dass es erstens in und mit Zeit existiert, wie alles Dinghafte, und zweitens zur Information über Vergangenes dienen kann. Das reicht vom Geschehen der nächsten Umgebung bis zur galaktisch entfernten Sternschnuppe. Ich sehe die Gegenwart – Lichtwellen/-teilchen treffen mich gerade – und rechne anhand dieser Information in die Vergangenheit. Und wenn mich die Information schneller erreichen könnte als mittels Licht, würde das nicht die ‚Zeitschranke‘ überwinden, sondern einfach bei dem Umstand zu Ende kommen, dass die Information über ein Ereignis nicht früher als das Ereignis selbst stattfinden kann. Und auch mit dem größten Riesenteleskop ließe sich nicht in die Vergangenheit blicken, sondern nur die Gegenwart feiner erfassen. Alles Weitere ist Rechnen, Rückschließen, Modellbildung. Es ist überall im Kosmos: jetzt. Und diese Urbewusstheit erreichte mich überall, egal in welcher Galaxie mit welcher Geschwindigkeit ich unterwegs wäre, meine Erfahrung des Jetzt ist absolut, sie steht über aller physikalischen Zeitnahme.
Zur Erkundung der Zeit müssen wir uns tatsächlich auf das Erleben rückbeziehen, doch auf ein ursprünglich umfängliches, nicht in Theorie- oder Strategiebildungen schon motivisch eingepacktes ‑ motiviert und euphorisiert aber von der (unterschwelligen) Aussicht auf Identitäts-Überlegenheit durch den Besitz jener Wissenschaft ‑, also nichtursprüngliches und nichtumfängliches. Das ursprunghafte Erleben wiederum kann nicht aufgefangen oder gar beschworen werden, was oft in irrlichternde Sätze führt wie: „Erst mit dem Erleben vollziehen wir Zeit“ o. ä., das hieße sofort es begrifflich zu plastifizieren und so schon wieder zu verfälschen. Wir haben eine vorausliegende Gabe, die Zeit als Dimension des Dass zu erfahren, jegliche Beschwörungen und Begreifungen aber verfehlen dies per se. Hierbei hätten wir sozusagen das subjektivistische Positiv zum objektivistischen Negativ. Aber die Beschlagnahmung von Raum und Zeit durch unsere weithin unphilosophische Physik ist vielleicht das schlimmere Übel, sie isolierte die Zeit vom menschlichen Ur-Eindruck, ins Absolute zu reichen, schmälerte sie um den Schöpfungsimpuls. Da haben wir es nur noch mit Gewordenheit zu tun, die genauso simpel wieder vergehen wird, ein fataler Kurzschluss emanzipierten Be-greifens.
Der moderne Mensch lebt ohne Ewigkeit und Absolutheit, dafür hat man ihm auch noch einige prägnante Denkfehler eingepflanzt, so diesen: „Es gibt keine Gleichzeitigkeit“. Die Zeit wäre ja, wie man voraussetzt, erst Zeit innerhalb physikalischer Prozesse; jene müssten also auf einen absoluten Beobachtungspunkt beziehbar sein, um eine Abgleichung der je systeminternen Zeitpunkte finden zu können. Weil aber jede Beobachtung von ‚Gleichzeitigkeit’ immer systembezogen geschieht – und es keine bevorzugte Beobachtungssituation gebe, auch keine Synchronisierbarkeit von Beobachtungspunkten in zueinander bewegten Systemen auf ein übergeordnetes Metasystem hin ‑, könnten wir nicht von Gleichzeitigkeit sprechen, des weiteren auch nicht von einer Absolutheit der Zeit. In diesen Sätzen liegt eine argumentative Kluft. Es wird schon vorausgesetzt, dass Zeit erst in den Prozessen Zeit sei, und als Erweis dafür reicht die Unmöglichkeit, absolute Zeit – Zeit in das All der Dinge – empirisch zu ermitteln.
Dass aber auch wissenschaftlich von einem Alter des Universums gesprochen wird, steht wieder durchaus im Widerspruch zu dem, was ansonsten über eine immer schon jeweilig systemgebundene Zeitlichkeit ausgesagt wird. Die postulierte Relativität aller Zeitangaben würde hierbei zwar deshalb nicht relevant (der Autor packt jetzt in eine aktive Begründung, was meist nur unausgesprochen mitschwingt zu dieser Frage), weil die Zeitmessung hier keine äußerlich an etwas herangetragene, sondern eine aus dem Stoff selber gewonnene sei. Dessen Gestaltlichkeit folge konstitutiven Gesetzlichkeiten zum strukturellen Aufkommen von Materie~Energie – von der Theoretischen Physik postuliert und von praktischen Anwendungen bestätigt ‑, wie sie im ganzen Universum Gültigkeit haben. Damit könnten wir das Alter unseres Universums bestimmen und zwar mit hinreichender Gültigkeit. Praktisch gesprochen werden allerdings makrokosmische Veränderungen und mikrokosmische Zerfalls- und Umwandlungsprozesse zur Berechnung herangezogen, die keine systemüberlegene Zeitnahme darstellen. Die Relativität aller Zeitnahme und davon ausgehender Modelle ist auch hier gegeben. Und kein ernstzunehmender Physiker würde etwa Gewähr dafür geben, dass ein Teilchenbeschleuniger auch nur auf dem Jupiter, also in nächster Nähe zur Erde, hinreichend kompatible Ergebnisse lieferte, um gegenwärtige Aussagen über den subatomaren Bereich soweit zu bestätigen, dass damit z. B. die Urknalltheorie bekräftigt wäre. Es bleibt die Jeweiligkeit der Messung, und die Universalisierung der Ergebnisse stellt eine unabsehbare Aufgabe dar, gerade in Anbetracht des induktiven, also hochgradig hypothetischen Charakters gegenwärtiger Modellbildung, der da zu hinterfragen wäre. Und auch wenn kosmologische Befunde wie die Existenz einer Hintergrundstrahlung von frappierender Kompatibilität mit bestehenden Formalismen der Beschreibung sind – die ersehnte Einheitstheorie scheint da oft nur noch auf ihren glücklichen Entdecker zu warten ‑, bleiben verstehenskundliche Fragen doch seltsam unberücksichtigt. Man hat wohl kaum eine entfernte Ahnung davon, wie sehr einzelne Aspekte von vorneherein einander zuspielen angesichts einer jeweils favorisierten Modellbildung und schon aufsetzend auf eine Nomenklatur des Zugangs.
Der wahre Zeitpunkt von etwas, also dessen Position auf einer gesamtheitlichen Zeitachse ist aber nicht nur nicht ermittelbar, sondern darf auch nicht von Ermittelbarkeit abhängig gemacht werden. Jene richtet sich eben, als eine praktikable genommen, von vorneherein auf relative Zeit, gewonnen aus Vergleichung von je schon Bestehendem. So können keine Absolutheiten ‚entstehen’, man bewegt sich ja mit allen Messungen schon auf einer eröffneten – bezogenen – Ebene. Auch induktives Denken, von dieser nachgeordneten Perspektive aus, wird nicht zu Aussagen darüber führen können, wovon es schon bedingt wird. Wir können von diesen messungsbasierten Theoriebildungen her nicht auf den Ursprung und auf absolute Zeit schließen. Leider findet sich die entsprechende Wissenschaft selten darein, dass nur sie das – mit ihrem Ansatz und ihrer Methodik – nicht kann, sondern belehrt unseren intuitionsgestützten Hausverstand, dass auch er das nicht können könne. Authentisch erfahrene Gleichzeitigkeit sei logisch eine Illusion. Die Physik geht zwar, schon indem sie 13,7 Milliarden Jahre zum Urknall zurückrechnet, auch von absoluten Zeitpunkten aus, aber eine absolute Gleichzeitigkeit zweier konkreter Ereignisse dürfe nicht behauptet werden.
Wenn über meinem Garten in Westeuropa eine Sternschnuppe verlöscht, kann trotzdem in China gleichzeitig eine Feuerwerkskörperfabrik explodieren, und zwar feststellbar. Wohl kann ich es nicht gleichzeitig erfahren, aber mich mit einem Chinesen über die Uhrzeit verständigen. Dann beziehen wir uns beide auf eine Zeitkonvention, die wir aber als Konvention durchschauen und an unserem jeweiligen Spontaneindruck abgleichen können. Und wenn ein Astronaut von einer rasenden Raumkapsel aus die Ereignisse versetzt wahrnimmt, dürfen wir ihn auch noch mit hereinnehmen in unsere Konventionenabgleichung. Es ändert in der Sache nichts, wenn die Lichtstrahlen von einem konkurrierenden Bezugssystem aus, man nehme gern ein Raumschiff fast so schnell wie das Licht, beobachtet wurden und scheinbar in der gleichen Zeitspanne eine größere Strecke zurücklegten. Mit der Annäherung eines Beobachtungssystems an die Lichtgeschwindigkeit ereignet sich nicht etwa, was immer so schön als Zeitdehnung beschrieben wird, sondern nur eine gedehnte Messung. Auch die unterschiedliche Alterung im berühmten Zwillingsparadoxon bietet keinen Aufschluss über die Zeit, sondern wäre eben ‚biometrische‘ Zeitnahme. Das alles verweist nur auf die Relativität jeglicher Zeitnehmung oder auch jeglicher Beobachtung zum Beobachteten. Wir wissen aber darum intuitiv.
Die Beobachtung ist nicht nur als Unschärfefaktor zu berücksichtigen, sondern – viel grundlegender – als eigenes Ereignis neben das Beobachtete zu stellen! Das wird in den klassischen Beispielen zur Demonstration der Zeitrelativität immer glatt unterschlagen. Da werden drei Ereignisse, nämlich ein beobachtetes und zwei der Beobachtung, so besprochen, als ob sie auf eine einförmige Metarealität hinauslaufen könnten. Mathematisch ausgedrückt, soll eine Funktion mit zwei Variablen nicht nur auf ein eindeutiges Ergebnis hinauslaufen können, sondern auch schon dieses eine Ergebnis sein: (F = x + y) > (F = Ergebnis) > (Ergebnis). Wenn also jemand auf dem Bahnsteig steht – um eines dieser Beispiele zu zerlegen – und mittig zwischen zwei Signalleuchten hindurchblickt, deren Aufblinken dann aus den Augenwinkeln registriert und als gleichzeitiges Ereignis erlebt, ist die Situation genau genommen folgende: Lichtwellen von zwei gleich entfernten Quellen werden von einer systembezogen unbewegten Person wahrgenommen. Darauf bezieht sich die Rede. Vom Zug aus betrachtet kommt nun noch hinzu: Der Fahrgast, als Vergleichsperson, legt während des Aufblinkens eine Fahrstrecke zurück. Entsprechend geschieht eine Wahrnehmung sich überlagernder Ereignisse, die nicht mehr kompatibel ist mit der anderen Wahrnehmung. Aber das ist kein Widerspruch, sondern Darstellung zweier verschiedener Vorgänge, nämlich zweier konkreter Zeitnahmen. Das Quellereignis ist nur jeweiliger Bezugspunkt dafür, es wird primär gar nicht besprochen oder eben: nur vermeintlich besprochen. Faktisch hat man zwei konkrete nachgeordnete Ereignisse auf eine Idealsituation hinverpflichtet, hat sie auf eine beiden vorausliegen sollende Zeitnehmungsidealität zusammengezogen, zu einer Zeitnahme von zwei Systemen her, alles zusammen dann zu einer Metarealität ohne Verhältnishaftigkeit (wie oben formalisiert: Aus einer dreigliedrigen Funktion wird ein monolithischer Term.) Es kann aber eine solche Situativität gar nicht geben, die man hier – unbewusst, unerkannt – konstruiert hat. Also kann sie auch nicht für einen Aufweis von etwas herhalten. Und wenn das Beispiel andersherum aufgezogen wird, nämlich dass der Zug als ruhendes System wahrgenommen wird, und entsprechend der Betrachter mit dem Bahnsteig sich bewegt, ändert das nichts an der Ereigniskonstellation: Licht kommt von den Signalleuchten, der Fahrgast im Zug absorbiert die Lichtstrahlen in Überlagerung mit der Eigenbewegung, der Betrachter auf dem Bahnsteig unüberlagert. Und das kann uns nichts über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Gleichzeitigkeit mitteilen. Dieser ‚Effekt’ (dass die Unterschiedlichkeit zweier Zeitnahme-Situationen zwei unterschiedliche Zeitnahmen bewirkt) lässt sich nur allzu folgerichtig auch im Uhrenvergleich erhärten; selbst für die Atomuhr gilt ja noch, sie liefert keine außerphysikalische Zeitnahme, sondern ist dem sie umgebenden System ausgesetzt.
Es gibt in Sachen Zeit und Gleichzeitigkeit sehr wohl ein bevorzugtes System, nämlich das jeweils ruhendere, was prinzipiell von einem dritten System aus betrachtet werden kann. Man denke einfach an eine Raumstation außerhalb unserer Erdumlaufbahn, die nicht nur den Zug auf der Erde, sondern auch die Erde selbst als bewegt aufzeichnen kann. Natürlich ist auch dieses System wieder bezogen und bewegt, und kann somit keine Basis für absolute Zeitnahme sein, aber was unsere Frage betrifft reicht es ja schon, die Systeme Erde und Zug in ihrer jeweiligen Gesamtheit betrachten zu können. Zwar darf deren Kräftekonstellation – seit der erkannten Äquivalenz von schwerer und träger Masse – nicht ohne weiteres darauf gemünzt werden, dass einmal Gravitation gegeben sei (von seiten der Erde), das anderemal Kraftwirkung (auf den Zug). Es wäre für den Beobachter außerhalb der Systeme ja auch denkbar, dass der Zug eine riesenhafte Masse besitzt und die Erde sich wie ein großer Luftballon um ihn dreht. Wie sollte also jener Beobachter entscheiden? – Er müsste, bei fehlender Möglichkeit physikalischer Bestimmung, nur anerkennen, dass er eine Vorrangstellung eben nicht bestimmen kann. Aber prinzipiell ist das System mit der größeren Massenwirkung das ruhendere. Und die Relativität der Systeme auf weitere Systeme hin lässt sich (prinzipiell) fortführen bis zur Expansionsbewegung des Kosmos, wobei die Zeitnahmen von den unterschiedlichen Systemen aus eine Hierarchie der Gültigkeiten aufwiesen.
Ein absoluter Beobachtungspunkt müsste freilich diese Hierarchie sprengen und sich auf den Kosmos als Gesamtheit beziehen können. Philosophisch formulierbar vielleicht als ‚äußeres wie zentral inneres wie überall inneres Außerhalb‘. Damit wäre allerdings nicht mehr von einem geografischen Punkt, sondern von einer Beobachtungsweise die Rede. Über ein entsprechendes außerstoffliches Sein – das natürlich auch über ‚Antimaterie’ und ‚Paralleluniversen’ dimensional hinausgeht ‑, gibt es schon seit Menschengedenken Ahnungen und Ansätze. Von der christlichen Offenbarung her, getragen durch Zeitalter von Scholastik, Mystik, Aufklärung, ist Folgendes auf uns gekommen: Das kosmische All ist nicht eigentlich das All, sondern die Schöpfung. Ihr Sein verweist auf ein voraus seiendes Ich-bin-der-Ich-Bin Gottes. Und die Zeit hat Gott nicht als zugehörig zu diesem All erschaffen, einmal hineingegeben, sondern sie ist sein Erhalten des Alls. Unsere Seele aber gehört dem Überzeitlichen an.
Ihre tiefsten (und eigentlichen) Entscheidungsinitiationen sind dem zeitlich sich gerade Ereignenden immer schon vorausliegend, sie geschehen mit Zeit, also in> die stets neue Manifestation und Präsentwerdung des dingweltlichen Jetzt hinein. Dieses ‚Grundgeschehen’ ist freilich empirisch kaum greifbar, schon gar nicht regelhaft repräsentativ. Aber würde es einmal eingelassen in die gegenwärtige abgeschirmte ‚Faktizität’ dessen, was sein kann und darf, geriete z. B. die Lichtgeschwindigkeit plötzlich in Konkurrenz zu telepathischen Übertragungsgeschwindigkeiten, die niemand kennt, ja, die vielleicht gar nicht mehr als Geschwindigkeiten bestimmbar sind. Aber das Zeitliche und das Räumliche wären dabei in authentischere Relativität gebracht, nicht zueinander, sondern miteinander: zum Unsagbaren. Und nur für Gott sind tausend Jahre wie ein Tag, und ein Tag wie tausend Jahre.
Solche Sätze können nur glaubend angenommen werden. Auch die Eröffnung des Seins durch Urknall und Raumzeit stellt aber nicht eine bewiesene Tatsache, sondern höchstens eine unbeweisbare Hypothese, wenn nicht nur eine unphilosophisch sprunghafte Spekulation dar. Negativ ausgedrückt, darf ihr gemäß nicht daran geglaubt werden, dass es eine vorausliegende Zeit gebe, vielmehr entstehe Zeit eben erst mit den Ereignissen, so wie der Raum erst mit den Gegenständen. Der vermessbare Zeitfortschritt in physikalischen Prozessen wird dabei mit der Zeit als solcher identifiziert, also ein Wie des Einzelnen mit dem Dass des Ganzen. Das lässt sich freilich nur durchhalten, ansonsten gäbe es hier einen Kategorienfehler des Denkens, indem die Frage nach jenem Dass abgeschafft ist.
Unser ursprünglicherer Eindruck ist eine substanzielle Zeiterfahrung: von einer Tiefe des Augenblicks, von einem Immer-erst-Werden der Gegenwart – der Gläubige: von einem stetigen Ins-Sein-gehoben-Sein der Schöpfung. Damit ist, versteht sich, nicht die neurologisch bedingte Verzögerung des Jetzt-Eindrucks gemeint oder das Erlebnis einer Ausreifung der vollen Bewusstheit über verschiedene Vorbewusstheiten etc. – das würde jene erlebte Substanzialität auch keinesfalls konstituieren können ‑, es handelt sich um etwas dimensional anderes.