Reden wir einmal ganz allgemein davon, dass es da ein Maß geben muss, welches uns signalisiert, ob unsere Identifikation von etwas zuviel der Identifikation ist oder zuwenig davon. Nennen wir es provisorisch Lebensmaß. Klarerweise setzt dieses Lebensmaß immer auf schöpfungshafte Signalität auf. Etwas als etwas zu identifizieren, kann leichter fallen und näher liegen, oder es kann eine immense identifikative Aufwendung erfordern. Was von beiden der Fall ist, wird von der Stofflichkeit des Anvisierten entscheidend mitbestimmt. So ist etwa die Farbe Rot naturgemäß eine offensive Signalfarbe, und es legt sich mir entsprechend eine rasche Idenfikation des Signalisierten ‚als signalisiert’ nahe. Ein innerkörperliches Signal wie akuter Schmerz ist auch nicht auf lange Umwege in seiner Wahrnehmung ausgelegt; die Identifikation hierbei zu verzögern wäre ungewöhnlich, sagen wir durchaus (auf vorkonkreter Ebene) erklärungsbedürftig. Die Korrelation von stofflicher Signalität mit seelischer Repräsentanz reicht dabei von einfachen Affekten bis zu ausdifferenzierten Motivationslagen, von kräftigen Bildern, nah an der sinnenhaften Abnahme, bis zu dem brüchigen oder sich schon verflüchtigenden Bildhintergrund bei abstrakten Reflexionen. 

Unser Lebensmaß ist ein 'automatisch mitlaufender' Gradmesser der mit dem aktuellen Identifizieren gegebenen Vitalität - jene allerdings nur im Sinne einer Basis-Vitalität, nicht als eine final zu bewertende Lebenstüchtigkeit; in solch finale, ganzheitliche Bewertung spielt es freilich konstitutiv hinein. Es ist also in dieser basisvitalen Weise eine Konstante, an der sich unsere identifikativen Erschließungen und Einschätzungen bemessen - nach der Verhältnismäßigkeit des geleisteten identifikativen Inputs ‑ und so erst konstituieren. Unsere Identifikationen werden an diesen Punkt der Abgleichung am Lebensmaß gebracht bzw. schließen ihn schon ein.

Identitätshaft treibende Charakteristik allerdings, im Sinne eines zumindest ansatzweisen Identität-haben-Wollens, verleiht das Lebensmaß gerade indem wir es (sehr oft auch schon begründet durch die laufende Notwendigkeit lebensweltlicher Jetzt-Entscheidungen) verfehlen. Es sind dann tatsächlich die Abweichungen vom Lebensmaß, die vordringlich erinnerbar sind. Generelle Erinnerbarkeit im Wesensvollzug gibt es freilich nicht erst bei starken Ausschlägen oder etwa offenkundiger Leidenschaft, sondern in feinsten Abstufungen, in einem unwillkürlich stattfindenen Summieren unseres identifikativen Inputs in den Entscheidungscharakateristiken.

Daraus ergibt sich eine legitime Unschärfe im Selbstgegenübersein, konkret in der Kunst, noch konkreter in der Politik. Im Effekt reden wir eigentlich von einer legitim vollzogenen Schärfe, genauer: Scharfstellung, bei der Überführung von innerlicher seelischer Gestaltlichkeit in äußerlicher seelische (wir nennen es konkretheitliche) Repräsentation, was eine Ungenauigkeit der Entsprechung zur Folge hat, welche also ‚in Kauf genommen’ werden kann. Dies darf gleichwohl nie dazu führen, unsere Ausrichtung auf Idealität erklärtermaßen abzuschwächen. Jede konkrete Bezugnahme auf das Lebensmaß, erst recht durch solche pragmatische Relativierung, wäre im Kern totalitär. Und die legitime Abschwächung bzw. Übersteigerung unseres Anstrebens von Idealität geschieht ja ohnehin ‚von selber’, in der Dynamik des Lebens.

Das Lebensmaß und seine legitime Verfehlung entziehen sich jeder wissenschaftlichen Beschlagnahmung. Eine solche wurde und wird freilich trotzdem versucht, unter variierenden Terminologien, aber fast immer mit einer hoffnungslos verdünnten Semantik der eingesetzten Begriffe und mit dem Ergebnis wenig ersprießlicher Darstellungen des Subjekthaften. Kommunikationswissenschaft, Ideologiekritik, Demokratietheorie bis hin zur Fundamentalontologie agieren mit psychologischen, soziologischen oder politologischen Figuren und Fertigbegriffen, welche zuviel terminologisch Vorentscheidungshaftes einbringen und so die Aufspürung eines Lebensmaßes (vielleicht formuliert als glückliche Richtigkeit, geistesgegenwärtige Zusammenschau o. ä.) von vorneherein nicht zustande bringen. Das wurde und wird auch eingestanden, zumeist allerdings nicht mit der Folge einer bescheidenen Selbstzurücknahme - „Das menschliche Subjekt mit seiner subjekthaften Angefordertheit kann von Wissenschaft nicht mehr authentisch beschrieben werden“ ‑, sondern die Grenzen der wissenschaftlichen Erschließung bestimmen dann unter der Hand die Grenzen des zu Erschließenden.

Viel akute oder verkappte Ideologie schwingt hier auch mit. Wenn etwa der neomarxistische Philosoph Louis Althusser einer Subjektkonstitutivität von Ideologemen das Wort redet – in verfeinernder Kontinuität zur marxenschen Selbstkonstitutivität in klassengeprägter Daseinsrealisation ‑, ist damit eine massive Politisierung in das Innerste des Subjekts hineinverlegt. Im real existierenden Sozialismus der letzten Jahrzehnte kämpfte man ja ausdrücklich gegen Totalitarismen, auch im Sinne einer Läuterung seiner selbst, aber führte den Diskurs stets innerhalb der eigenen Nomenklatur, mehr oder weniger streng entlang der historischen Vorgabe, dass gemäß den Produktionsverhältnissen Bewusstsein gebildet werde. Das verquickte sich dann insbesondere mit der Psychoanalyse Freuds und prägte so eine psychologisch-politische Intellektualität weltweit. Und das menschliche Subjekt verlor bei tonangebenden Philosophen schließlich jede substanzielle Eigenrealität und wurde etwa als ‚Strukturelle Unmöglichkeit‘ ausgewiesen, die alte Frage nach dem Subjekt dabei so gewendet, dass die Unmöglichkeit einer gänzlichen Selbsterschließung des Subjekts für das Subjekt genau das Subjekt ausmache – nur eben nicht in dem Sinne, dass da noch etwas (Unerschließbares Tieferes) substanziell gegeben sei, sondern unser Subjekt-Sein sei positiv dieses Unvermögen und das Subjekt positiv das entsprechende Nichtseiende.

Da wird mit einem so kecken wie schludrigen Schritt, der seine erkenntnistheoretische Abgründigkeit nicht durchschaut, der Spieß umgedreht und aus der Nichtbeschreibbarkeit des Subjekts die Beschreibbarkeit des Subjektnichts. Eine lange Vorgeschichte von denkerischen Plastifikationen abstrakter Gehalte, denen keine originär anschaubare oder erlebbare Gegenwertigkeit mehr entspricht, hat solchem Denken-in-Sprache zu seinen Ergebnissen verholfen. Diese Plastifikationen stellen Überidentifikation dar, und zu forsch auf sie aufzusetzen heißt identitätstechnisch, dass jemand in einem fertigsprachlichen Abgreifdenken unterwegs ist. Das Lebensmaß, als der fertigen Identifikation und dem sprachlich fertig Identifizierten und Präsentierten vorausliegend, ja den Weg bis zu einer jeweils findbaren Sprachlichkeit identifikationsvorbehaltlich ‚störend’, ist hier von einer dynamisierten Eigenmacht des Terminologischen überdeckt. Das trifft gerade auf Strukturalismus und Poststrukturalismus fast in Gänze zu: Man bricht zwar unsere Erkenntnisgeflechte auf kleinstmögliche Einheiten herunter, setzt aber mit dem Vorgang solcher Dekonstruktion eine umso größere Einheit, nämlich ein hochgradig identitätswirksames Vorzeichen, wie man sich mit Letztgültigkeit auseinanderzusetzen habe.

Signifikat (ein zu Bezeichnendes) und Signifikant (das materiell Bezeichnende) ließen sich nicht voneinander trennen, ohne auf eine notwendig ideologische Metaebene zu rekurrieren, also werden sie möglichst in eins gesetzt. Manche Vertreter der Sprachphilosophie, wie die amerikanische Gender-Philosophin Judith Butler, setzten unser Verfasstsein in einem tradierten Sprach- und Kulturzusammenhang gleich als ein absolutes voraus, soweit, dass gelebte Sprache gar unser unhintergehbares Begreifen von Körperlichkeit (etwa die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen) erst bewirke. Hier hat sich dann ganz eindeutig etwas plastifiziert, aber nicht Geschlechtszugehörigkeiten, sondern die Denkinstrumente einer Ideologin, die einer Ideologiekritik im eigentlichen Sinne auch nicht mehr zugerechnet werden kann. All diesen ideologiekritischen Ansätzen gemeinsam aber ist eine vertrackte Methodisierung, Hypostasierung oder mindestens sprachliche Fixierung von Gewährleistungspunkten. Etwas wird immer als Anker für Richtigkeit installiert, genauer als Aufweis für wissenschaftliche Besprechbarkeit.

Im Zuge der Aufarbeitung des 68er-Phänomens gerät die Frage nach Ideologie als solcher – gemäß unserer Terminologie: eine offensive Verfehlung des Lebensmaßes – auch immer wieder in einen breiteren Fokus. Auf allen Kanälen wird dann eine Zeit, die sich ihrerseits schon über ambitioniertes Analysieren definierte, populäranalytisch beleuchtet. Aber damals wie heute realisiert man dabei kaum, dass die angewandte Analytik nicht in den Kern einer Sache reichen kann. Schon die ‚Dialektik der Aufklärung’ von Horkheimer und Adorno lief letztlich auf eine technisierte Darstellung ihres Gegenstandes, also des selbstentfremdend subjekt-technischen Denkens der Moderne, hinaus, und das seelische Herkommen alles Denkens und Begriffsbildens wurde zwar tief aber nicht tief genug thematisiert. Gleiches gilt erst recht für den zeitgenössischen Existenzialismus. Er hat eine allzu eloquente Positivierung unserer ‚Existenzialien’, schließlich des gesamten menschlichen Daseins entwickelt. Und mehrere Generationen von Intellektuellen trugen und tragen solche menschenkundliche Versiertheit wie einen Katalysator ihres Denkens mit sich herum. Auch heute werden Begriffe wie totalitär und intolerant fast traumwandlerisch routiniert gebraucht, durchaus auch in selbstkritischer Stoßrichtung, aber dabei nicht in der nötigen Tiefe geführt.

Sie sind von vorneherein gesellschaftstheoretisch eingepackt und auf mediale Wirkung hin verinnerlicht, was real bedeutet mit Selbstbespiegelung und massiven identitätshaften Dynamisierungen versetzt. So geht es vielleicht am auffälligsten in den TV-Talkrunden, aber ohne dass es die Beteiligten wirklich realisieren würden, permanent um Selbstdarstellung und intellektuell aufgeblasene Selbstbeheimatung. In authentischer Tiefe sollte es um Ideologisierung als solche gehen, und diese beschreibt ein geistiges Naturell, aber grundlegend, nicht von vorneherein mit Begriffen wie faschistoid etc. politisiert und dynamisierend überdeckt. Also, ein Naturell der geistigen Erschließung, das sich in verschiedensten (z. B. politischen) Gestalten manifestieren kann und folgender Art ist: Die Gehalte sind zweitrangig, eine getriebene Vehemenz in der Identifikationsnatur bestimmt das Denken.

(Jenes ‚Eifern nach Identität’, welches von Adorno schon machtpartizipativ, also in psychologischer und soziologischer Figuration gedacht wurde, ist damit nicht deckungsgleich, sondern stellt eher schon einen Spezialfall dar. Das Phänomen Überidentifikation in seiner ersten Tiefe könnte nur in phänomenologischer Nahbetrachtung, einer Art Selbstversuch von unerbittlicher Eigenbetrachtung ‚beim’ Identifizieren aufgespürt werden. Solches führt natürlich sofort in tiefgreifende Interferenzen und Turbulenzen, weil damit – real wirksam - jegliche Identitätseffekte zur Disposition stehen, auch jene, die sich bei der kritischen Absetzung selber ergeben.)

Bei seinen Identitätsanknüpfungen von Vorlieben bestimmt zu sein, also im Tieferen eine Fortführung des Selbstbildes anzustreben, ist grundmenschlich und ein zunächst noch unverdächtiges Konstitutivum aller Kultur. Falls aber das vorherrschende Identifikationsnaturell eine rigorose Überidentifikation darstellt, ist aus Vorliebe zwanghafte Leidenschaft geworden. Als typisches Beispiel hierzu mag Gudrun Ensslin angeführt sein, die fast nahtlos von einem aktivistischen Protestantismus zu einer aktivistischen, recht bald terroristischen Gesellschaftsveränderung strebte, zuletzt ging es nur noch um: Aktion. Natürlich sind die Beispiele unübersehbar zahlreich, der Linksanwalt wurde zum Rechtspopulisten, die eifernd tugendsame Klosterschülerin avancierte zur rigorosen Feministin mit der reinen Lehre, der verkannte Künstler stilisierte sich zum Gesamtkunstwerk auf der politischen Bühne. Was hier so trocken nebeneinander gestellt ist, hat eine (sich jeweilig dynamisierende) Kontinuität im Identitätsnaturell gemeinsam. Auch ganze Milieus können die Vorzeichen wechseln, Zeitstimmungen die Affekte konträr entgegengesetzter Zeitstimmungen verkappt in sich abbilden.

Was die Umbruchstimmung anno ´68 betrifft, wurde von Jürgen Habermas sehr zeitnah, schon in der Hitze der ersten Konfrontation, von Linksfaschismus gesprochen. Ähnliches hörte man zunehmend von Leuten aus den aktiven Zirkeln selbst. Götz Aly hat in unseren Tagen dann ausdrückliche Parallelen gezogen zwischen der 33er- und der 68er-Jugend. Analogien unter diesem Fokus bieten sich natürlich an, weil hier eine Jugend angetreten war, den Faschismus der Vätergeneration zu überwinden, aber sie sind in sich, also ihrer Methodik nach, ausgesprochen problematisch. Das zugrundeliegende tiefere Problem kann, wenig zielführend, mit solchen Zuschreibungen auch historisiert werden. Echte Kommunikations- und Extremismusforschung wird sich hüten, Totalitarismen vorschnell in zeitgeschichtliche Raster zu packen. Sie sind eben auch: geschichtlich jeweilige Manifestationen einer tieferen, sozusagen übergeschichtlichen Konstante, nämlich des menschlichen Sündenfalls, sich des Lebens und der Wahrheit bemächtigen zu wollen.

Totalitarismen zeichnen sich dadurch aus, dass eine heischende Totalität der Identifikation alles richten soll. Diskurse sollen, unterschwellig aber unerbittlich, durch einen leidenschaftlichen Gestus entscheidbar sein. Dieser Gestus wiederum meint eine (wie auch immer sich konkret ausprägende) Selbstgenüsslichkeit darin wie ich zu identifizieren beliebe, also auf welchen Daseinsansatz ich mich immer wieder rigoros zurückziehe, wie ich rigoros da-sein will. Wir haben es dabei mit einem so zeitlosen wie breitesten Phänomen zu tun. Offenkundig trifft es heute z. B. für poppig-peppige Zeitgeistmedien zu, verdeckter für säuerlich bürgerliche Zeitungskolummnen. Die genüssliche Egozentrik tendenziösen Auffassens haben wir bei der flink spitzen Intellektualität in manchen Studentenkreisen wie bei dem – jetzt ein Sprung, der aber identitätstechnisch gar nicht so groß sein muss – abgebrühtest ruhigen Gewissen der islamistischen Massenmörder.

Eine identitätshafte Selbstbeheimatung über Gebühr, Überidentifikation, ist hier also das gemeinsame Problem. Es kann die akut gefährliche Gestalt eines Affekts ‚gegen die Bösen’ einnehmen, es kann aber auch eine längerfristig, vielleicht erst nach Generationen wirksame Gestalt von hemmungsloser wie hilfloser Egozentrik annehmen. Und niemand sollte etwa so naiv sein zu glauben, dass die gegenwärtige Schlagseite in unserer Mediengesellschaft, ein immer allgemeinerer und härterer werdender Selbstdarstellungszwang, ohne Folgen bliebe.

Sein durch Schein. Das Identitätshafte ist entsprechend längst einer Professionalisierung unterworfen, aber nicht in dem selben Maß einer Authentisierung, eher im Gegenteil. In Castingshows wird beklemmend deutlich, dass sich zwar alle bemühen, inbrünstig und authentisch zu sein, dieses aber verwechseln mit hemmungsloser Identitätstotalität. De facto hat man sich dabei gesellschaftlich favorisierten Rollenbildern unterworfen. Wenn es in meiner erworbenen Identität nicht vorkommt, einmal für keinen etwas gewesen zu sein, dieses auszuhalten, mich nach höherer Sinngebung auszustrecken, die nicht in gesellschaftlichen Images untergebracht ist, wenn also mein Selbstvollzug immer festgemacht war an Vorentscheidungen, wie ich auf Erwartungen zu reagieren habe – stehe ich in subtiler doch dramatisch umfänglicher Versklavung. Ein kaum greifbares aber tiefes Leiden von allergrößter Verbreitung gerade im westlichen Kulturkreis. Damit sind nicht die klassischen Selbstfindungsnotoriker gemeint (diese Generation ist auch gerade am Abtreten), sondern der klassische Normalo 2009, wie er sich auf eine Kultur verwiesen findet, die ihn nicht mehr beheimaten kann aber ihn desto offensiver beheimaten will. Und da hängt er drin. Sein Selbstvollzug erspart sich die Letzt-Dringlichkeit, wobei er eine mangelnde Authentizität seiner selbst ohne die Möglichkeit, das zu durchbrechen, empfindet.

Er will es empfindend, genießerisch fühlend durchbrechen, und darin liegt auch schon das Problem. Verfolgen wir an dieser Stelle nur eine grobe Entwicklungslinie der sogenannten Anthropozentrischen Wende. Francis Bacon erhob das Experiment zur wissenschaftlichen Autorität und gab so dem damaligen Menschen ein Instrument an die Hand, sich von geistlichen Autoritäten zu lösen; Descartes sprach „Ich denke also bin ich’ und hievte die menschliche Selbsterfahrung in den fragwürdigen Rang einer beweiskräftigen Erfahrungstatsache; Immanuel Kant hat die Wirklichkeit als von der menschlichen Wahrnehmung konstituiert beschrieben; Kierkegaard die lebengeschichtlich erwirkte Subjekthaftigkeit; Schopenhauer und Nietzsche haben ein willentlich herbeigeführtes Da-Sein beschworen; Freud, Heidegger und die Existenzialisten sowie verschiedene Pioniere in den Humanwissenschaften und Künsten haben dann eine professionalisierte und auf eine Weise abgreifbare Darstellung dieser Konstitutivität auf den Weg gebracht. Und: das menschliche Individuum findet sich seither herausgefordert, anhand eines professionalisierten Zugangs die Optimierung seiner selbst zu erwirken. Die Egozentrik ist zu einer Art moralischen Pflicht sich selber gegenüber geworden.

Aber keiner von den genannten Wegbereitern hat tief genug geschürft. Auch der wohl tiefste von ihnen – Kierkegaard – trug noch eine massive Positivierung und, gerade in der Nachwirkung, eine problematische denkerische Händelung in einen Bereich hinein, der unsere Intellektualität übersteigt. Jener ‚Bereich’, er beginnt spätestens dort, wo wir das Lebensmaß veranschlagt haben und führt dann ins unergründlich Intentionale. Doch das virtuelle Psycho-Instrumentarium, wie es zum neueren Bildungskanon gehört, hat sich sukzessive in einen allzu praktischen, aber das Eigentliche verfehlenden Werkzeugkasten der Lebenshändelung verwandelt. Folgerichtig stagniert heute die Besprechung und Bearbeitung menschlicher Subjektivität und Individualität. Und auch die gereift auftretenden Alt-68er kommen von ihrer Denke in politisierter und psychologisierter Fertigbegrifflichkeit nicht mehr weg.

Es gibt einen Ausweg, und der ist immer möglich und er findet ja auch millionenfach jeden Augenblick irgendwo bei irgendwem statt, nämlich den aufrichtigen Blick in unser Inneres. Das muss von uns nicht erfunden werden, sowenig wie wir Identität denken müssen (und können müssen.) Wer sich aber von der denkerischen, wissenschaftlichen Seite annähern will, sollte sich von einem Absolutismus der Quantifizierbarkeit alles Seienden gelöst haben. Eine Konsistenz des Subjekthaften wird solches – und wenn auch im breitesten Sinne – materialistisches Denken nie aufweisen können. Und wenn aus der Dekonstruktion die Negation folgt, wie derzeit hingenommen in weiten Kreisen der Philosophie, sollte man sich tatsächlich der Frage aussetzen, ob nicht die Dekonstruktion unter Berufung auf umso weniger dekonstruierbare Vorzeichen, faktisch also mit umso mehr verselbständigten Denkeinheiten erfolgt. Unser Begriff des Lebensmaßes kann somit nur schwerlich auf einen wissenschaftlichen Status Quo des Diskurses aufsetzen, sondern muss eine persönlich erlebte Freiheit - und dass wir uns beim Identifizieren als immer schon Umgriffene erleben (können) - positiv aufgreifen. Dieses in seiner Wirkung so unbedingt wie subtil erlebte Maß kann auch nicht die in der postmodernen Intellektualität veranschlagte Leerstelle ausfüllen, indem es Subjekthaftigkeit sei oder diese hervorbringe. Es ist dieser konstitutiv nachgelagert so wie Identität – ein Sein-durch-mit-sich-sein-Wollen – unserem originären Sein.

‚Konstitutiv nachgelagert’ ?
(Das kann in diesem kleinen Aufsatz nicht mehr verfolgt werden. Für einen Grundeindruck zu diesem Thema sei etwa an die Ausführung „Intentionalität ~ Zeit – Raum“ verwiesen.)

Johann Stahuber, Stand 8.12.09