In
das Phänomen des Ichs einzudringen, kann legitimer Bedarf sein. Wir setzen so
die Identifikationen und Profile, wie sie uns jeweils von der Selbstgeschichte her innerlich begegnen, dem aktuellen kulturellen Zusammenhang
aus, setzen sie quasi aufs Spiel, um nicht mit ihnen aufzulaufen.
Ich
kann im 21. Jahrhundert nicht mehr John Wayne sein. Das Westerngenre steht
recht typisch für einen spielerischen Umgang mit Ich-Schichtungen. Der
aufrechte Held ohne Furcht und Tadel, ohne Wenn und Aber wird dem Publikum in
unserer Zeit nicht vor allem deshalb vorenthalten, weil es ihn nicht mehr gäbe,
sondern weil wir uns heute auf eine vielschichtigere und reflexivere Weise
selber finden wollen müssen. Wohl gibt es noch den sattelfesten Cowboy als
Urbild im Hintergrund und er fasziniert weiterhin mit seiner martialischen
Schlichtheit, doch begegnet er uns inzwischen nur noch in gebrochener
Darstellung oder negativ, etwa als verstockter Familienpatriarch. Man will
heute beides, die naive Kraft und die rationale Überlegenheit, und dazu wird
zwischen Ich-Ebenen/Komplexitätsstufen der Selbstthematisierung auf und ab
manövriert (nicht konkret selbstanweisend, versteht sich, also hoffentlich.)
Ich lasse mich vielleicht im Kino von einer Liebesgeschichte hinreißen, später
lese ich dann eine intellektuelle Aufbereitung dazu im Kulturmagazin. Und da
drin steht vielleicht auch noch, der Film wäre „herrlich altmodisch“, es wird
also ein Nebeneinander von sentimentaler Hingabe und relativierender
Selbstbeobachtung als eines Sich-Hingebenden veranschlagt. Jeweils geht es mir
um ein Icherleben, auch die Reflexion betreibe ich in Diensten eines
Ichgefühls, ja selbst die Reflexion über die Reflexion in deren Koexistenz mit
dem Erleben. Wenn nicht intellektuell-kulturell allzu sehr abgefedert und damit
ichhaft ‚genichtet‘, handelt es sich dabei um reale Ichseinsweisen, freilich
sehr unterschiedliche, vom Träumer über den Intellektuellen bis zum
intellektuell Träumen-Wollenden, und je nachdem wie ich mich zu ihnen verhalte,
sie anpeile oder meide, arbeite ich auch an meiner Lebenstüchtigkeit.
Wir
müssen träumen. Wir müssen einschätzen. Wir müssen entscheiden. Wir müssen
spontan sein, aber auch überlegt, etc. Und das bewältigen wir durch mehr oder weniger
feine Bewegungen innerhalb unserer Ich-Alternativen. Wenn diese allerdings
keine ‚sanften’ Übergänge ermöglichen, weil sie zu unterschiedlich sind – so
dass sich die Variationen also gegenseitig ausschließen ‑, oder wenn sie
alle schon unter dem Vorbehalt realisiert wurden (nicht wirklich realisiert
nämlich), dass sie nur vorläufig sind, stehe ich in einer permanenten
Identitätskrise. Das ist schwer defizitär. Aber von einem seelischen Defekt ist
vielleicht erst dann zu sprechen, wenn die Krise unterbleibt (Stichwort etwa
Multiple Persönlichkeit.) Eine gewisse Identitätsverunsicherung ist dabei
schlichtweg geboten, denn nicht nur auf ihren kulturellen Zusammenhang hin sind
Ichweisen zu prüfen, auch diese Kulturhöhe selbst untersteht ja der Fraglichkeit.
Das
Bedürfnis, in die Ebenen des Ichs einzudringen, kann aber auch in
problematischer Weise instrumentalisiert werden. Da bekommt etwa ein
jugendlicher, schmerzlich nach Identität suchender Mensch ein Buch „Lerne Nein
sagen!“ in die Hände. Und wird mitten in die nackte Grundpolarität des Ichs
gestellt. Vielleicht lernt er zwar Nein zu sagen und entsprechende Mechanismen
zu überwinden und löst sich von einem skrupulösen Nettseinmüssen nach allen
Seiten, aber - er hätte das mittels Identifikation tun sollen. Neinsagenlernen
wäre dann Teil einer natürlichen Selbstveränderung gewesen, ‚im Paket‘ mit
begleitenden Anforderungen, um jener erneuerten Identität gerecht zu werden.
Also:
ich sage nicht deshalb nein, um konkretmein Ich zu verändern,
sondern bezüglich eines Gegenstandes – wie er identifikationsverflochten
daherkommt – sage ich nein, und bin schon dabei mich selbst zu verändern. Es
ist hier meine Urbegabung der unweigerlichen Faszination für Selbst- und
Vorbilder gefragt, das Erzählerische, die Inszenierung, der selbstfängerische
Witz, das fühlend erinnerte Rollenspiel aus der Kindheit, verschiedenste schöne
und schlimme Erfahrungen in ihrem lebensdramaturgischen Zusammenhang, also die
Fähigkeit, aus erlebter Identität auf ersehnte Identität hin unterwegs zu sein.
In Identitätsbildung werden die gegenläufigen Ansprüche des Ichkreuzes
miteinander vereinbart, das Harmoniebedürfnis und die Notwendigkeit des
Neinsagens (wenn auch vielleicht unbefriedigend, wie jede Identität ihre
Defizite hat), aber nicht als isolierte Anweisung, sondern in gewachsenen
Ich-Zusammenhängen.
Die
Praxis in diversen Selbstfindungs- und Managerkursen sieht leider anders aus.
Da kommt ein technisch angeeignetes, nicht in die Person eingebettetes
Durchsetzungsvermögen zum Zuge, da wird auf elitäre Motivation abgezielt, da
wird man dem Ich aus der Hand genommen, um das Ich in die Hand zu bekommen.
Aber diese Illusion einer psychotechnisch raffinierten Lebensüberlegenheit ist
ruinös. Gepuschte Egos brechen zusammen, sei es geschäftlich,
zwischenmenschlich, sinnbezogen oder in jeglicher Hinsicht.
Was
dazu oft nachhängt, ist der verfehlte Grundanspruch, man könne sich das Leben
trotzdem gefügig machen, irgendwie, man will nicht lassen von dem süßen Traum
der Lebensüberlistung. Und dies ist das Grundproblem der Spielsüchtigen, der
Drogenabhängigen, der Sexisten und Fetischisten und der Egomanen, die für ihre
Selbsterweiterung über glühende Kohlen gelaufen sind. Sie hatten
Erlebnisse an tragenden Gesetzlichkeiten vorbei. Oder, anders formuliert: sie
erlebten die Aussicht auf Lebensbewältigung neben dieser Ebene, die uns trägt,
indem sie uns fordert. Sie genehmigten sich die Verabsolutierung einer
isolierten Idee, aber um den Preis, wahre Selbstbildung zu erschweren,
vielleicht zu versperren.